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Deutschland - ein schwieriges Vaterland

 


Es wird manchmal beklagt, dass die Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen wurden, viel stärker betont und bestraft werden als die Verbrechen, die im Namen anderer Völker begangen wurden.

Richtig ist, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs international die Verbrechen im Vordergrund standen, die im Namen Deutschlands verübt wurden.

(In Deutschland selber gab es allerdings bis in die 60er Jahre hinein kaum jemanden, der zugegeben hätte, dass er ein gläubiger Anhänger Hitlers gewesen war, und der sich zu seiner Mitverantwortung und Mitschuld für die Verbrechen dieser 12 Jahre  Nazi-Herrschaft bekannt hätte.)  

Standen die Verbrechen der Deutschen zu Recht im Vordergrund der internationalen Diskussion? Was war denn daran anders als bei den andern Völkern?

Das besondere an den "deutschen" Verbrechen besteht darin, dass die Ermordung von Juden, Homosexuellen, "Zigeunern", Geisteskranken durch die Nationalsozialisten und ihre Helfer kein Resultat politischer oder militärischer Machtkämpfe mit diesen Gruppen war, sondern die Opfer wurden durch eine weltanschauliche Theorie bestimmt.

Formuliert und vertreten wurde diese Weltanschauung z. B. durch Dr. phil. Joseph Goebbels (Studium der Germanistik und Philosophie in Bonn, Berlin und Heidelberg). Diese Weltanschauung besagt,  
- dass die Geschichte ein Kampf von Rassen und Völkern ist,  
- dass die arische Rasse und das deutsche Volk wertvoller sind als zum Beispiel Slawen ("Untermenschen") oder Juden ("Parasiten") ,  
- dass der Erfolg im Kampf der Völker und Rassen davon abhängt, dass die arische Rasse möglichst rein erhalten bleibt und dass "entartete Elemente" ausgemerzt werden, und  
- dass die Gefahr für das deutsche Volk vor allem vom kapitalistisch-bolschewistischen Weltjudentum ausgeht.
 
Es wurden deshalb nicht nur solche Juden umgebracht, die politisch gegen Hitler gekämpft hatten und die als Gegner gefährlich werden konnten. Nein, die Nazis ermordeten z. B. auch einen deutsch-national gesinnten Teilnehmer des 1. Weltkriegs und Träger des "Eisernen Kreuzes Erster Klasse" oder eine 8jährige Schülerin, die gar nicht wusste, was "jüdisch" ist. Und dies nur deshalb, weil sie jüdischer Abstammung waren.

Dass Juden zum Sündenbock für irgendwelche Katastrophen erklärt wurden, dass sie wegen ihres Festhaltens an der eigenen Religion und Tradition als Minderheit unbeliebt oder verhasst waren, dass sie verfolgt und vertrieben wurden: all das gab es auch in andern Ländern. Aber das Ziel der Vernichtung aller Juden theoretisch zu rechtfertigen und zu versuchen, es in die Tat umzusetzen, das blieb den Anhängern des Nationalsozialismus und den zuständigen Behörden und Beamten des Deutschen Reiches vorbehalten.  
 
Dieser weltanschaulich untermauerten Politik entsprach dann auch die perfekte Organisation der Vernichtungsmaschinerie, die selbst Zahngold, Haare, Haut, Knochen und Brillen der Vergasten verwertete. 
 
Dass dies mitten in Europa in einem wissenschaftlich und künstlerisch hoch entwickelten Land möglich war und erst durch die militärische Niederlage von außen beendet werden konnte, das hat mit Recht einen tiefen Schock hinterlassen, der bis heute nachwirkt.  
 
Die Frage, warum dies gerade in Deutschland geschehen konnte, und was getan werden muss, damit sich so etwas hier nicht wiederholt, sollten wir nicht zu früh zu den Akten legen.

Ich fühle mich dadurch als Deutscher weder benachteiligt noch ungerecht behandelt, und ich habe als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens zweifellos das Recht, auch die Politik der damaligen Siegermächte oder des neu entstandenen jüdischen Staates zu kritisieren (allerdings ohne die Anmaßung, dass "am deutschen Wesen die Welt genesen" soll.)

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Der Muff von 1000 Jahren

Meine Lebenserfahrungen und mein eigenes Nachdenken haben mich zu einem tiefen Misstrauen gegen Positionen gebracht, die Zustimmung fordern, ohne diese Forderung auch für mich nachvollziehbar begründen zu können. Deshalb mein Wahlspruch: "Was für mich wahr sein soll, muss von mir auch eingesehen werden können."

Als ich geboren wurde, wendete sich mit der Schlacht um Stalingrad gerade das Blatt gegen den "Führer" des tausendjährigen Großdeutschen Reiches. Seine Kritiker hatte er umbringen lassen, außer Landes gezwungen oder hinter Stacheldraht gebracht. Eine raffinierte aber infame Rhetorik a la Dr. Goebbels sorgte für feste Überzeugungen. Nüchternes kritisches Denken, freier wissenschaftlicher Meinungsaustausch oder gar die Forderung nach nachvollziehbaren rationalen Begründungen der Politik waren verpönt. Und so gab es keine Möglichkeit der Korrektur. Der nationalsozialistische Wahn, der die Köpfe der meisten vernebelte, löste sich bis zum bitteren Ende nicht auf.

Vor diesem Hintergrund wuchs ich auf, aber die Vergangenheit war weitgehend tabu. Mein Vater war Parteigenosse und überzeugter Nazi gewesen. Als Hitler an die Macht kam, war er gerade 18 Jahre alt. Sein von einem Schulterschuss verkrüppelter linker Arm erinnerte an den Krieg, aber wir Kinder erfuhren von unserm Vater nichts über diese Zeit, kein Wort des Bedauerns, kein Wort der Selbstkritik, kein Wort über die eigene Schuld und über die eigenen Fehler.

In der Schule war es nicht viel anders. Die meisten Lehrer waren Mitläufer oder Anhänger das Naziregimes gewesen und hatten nicht das Format, die Verbrechen der Nazizeit und die Ursachen hierfür offen zu diskutieren.

Vor diesem Hintergrund musste man sich selber seine Gedanken machen um die Wahrheit über die jüngste deutsche Vergangenheit herausbekommen.

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Brauchen wir mehr Patriotismus?

Das Wort "Patriotismus" leitet sich vom lateinischen "patria" = "Vaterland" ab. Demnach ist "Patriotismus" die Loyalität, die Ergebenheit bzw. die Treue gegenüber dem eigenen Vaterland.

Damit stellt sich sofort die Frage, wo die Grenzen der Treue liegen. Darf man z. B. aus Treue ein Verbrechen begehen?

Der Begriff "Vaterland" ist nicht eindeutig. Ist es "das Land meiner Väter", also das Land, in dem meine Vorfahren gelebt haben? Ist es der bestehende Staat, dessen Bürger ich rechtlich bin? Ist es die Nation, deren Sprache ich spreche und mit der ich mich identifiziere? Was bedeuten die Begriffe "Vaterland" und "Nation" etwa für das in Hamburg geborene, zweisprachig aufgewachsene Kind griechischer Einwanderer?
 
Man sollte mit dem Begriff "Patriotismus" möglichst nicht hantieren, weil er einerseits nicht präzise ist, aber gleichzeitig starke Emotionen wecken kann, die aus Jahrmillionen Urgeschichte der Menschheit herrühren, in denen die Menschen in miteinander rivalisierenden Stämmen gelebt haben.

Gerade in Deutschland wurde in der Vergangenheit gegen "vaterlandslose Gesellen" der "Volkszorn" geschürt, letztlich um deren Vernichtung vorzubereiten und zu rechtfertigen. Mit einer selbst fabrizierten Definition dessen, was "deutsch" und was "undeutsch" sei, wurden Menschen wie Thomas Mann oder Sigmund Freud ausgegrenzt, ihnen wurde die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und ihre Schriften wurden öffentlich verbrannt.  
 
Ich bevorzuge deshalb statt "Patriotismus" den Begriff "Gemeinsinn". Darunter verstehe ich die Bereitschaft - trotz der vorherrschenden individuellen und familiären Orientierung - gegenüber dem Gemeinwesen seine Pflichten zu erfüllen – und vielleicht auch noch ein bisschen mehr für die Allgemeinheit zu tun.

Damit hat man auch ein anderes Problem entschärft, das darin besteht, dass das patriotische Verhalten für die Beziehungen zwischen den Nationen keine Lösung von Konflikten bietet, sondern nationale Egoismen und Überheblichkeiten eher verfestigt. Dies wäre aber angesichts der rasch wachsenden weltweiten wechselseitigen Abhängigkeiten geradezu fatal. Die großen Probleme der Gegenwart (globale Erwärmung durch Abgase, Aufrüstung von immer mehr Staaten mit Massenvernichtungswaffen, zu starkes Bevölkerungswachstum, Konjunkturschwankungen und Strukturbrüche der Wirtschaft, religiöse und ethnische Konflikte, krasse Unterschiede zwischen Arm und Reich) lassen sich nicht mehr auf nationaler Ebene sondern nur noch im Weltmaßstab lösen.  
 
Und was das tief sitzende Bedürfnis nach Stammeszugehörigkeit, Gemeinschaftserlebnis und "Wir-Gefühl" angeht, so kann man es auch gut im Sport befriedigen – sei es beim aktiven Volleyballspiel oder bei der Sportschau.  

Ich glaube, dass es für uns Deutsche nötig ist, uns mit der eigenen Geschichte und Kultur gründlich auseinanderzusetzen. Ich halte es jedoch nicht für angebracht, in Deutschland den Patriotismus zu fördern. Deutschland ist ein "schwieriges Vaterland". Aufgrund der Katastrophe, in die die Nationalsozialisten Deutschland unter dem Banner eines bedenkenlosen Patriotismus ("Du bist nichts, Dein Volk ist alles!") geführt haben, darf es keine unkritische Identifikation mit dem "Deutschtum" geben, sondern nur eine kritische Sichtung der eigenen Tradition.  
 
Diese kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur hat es inzwischen auch gegeben und muss es weiterhin geben. Ich nenne hier als ein Beispiel die Kritik an tradierten deutschen Erziehungszielen und Erziehungsmethoden ("Gelobt sei, was hart macht", "Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet", "Ein Kind hat zu schweigen, wenn Erwachsene sich unterhalten", "Ein Kind muss vor allem gehorchen lernen", "Man muss den Kindern Zucht und Ordnung notfalls einbläuen", "Keine Widerrede!", "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!" etc. ).
 
Dass in der Abkehr von tradierten Mustern nun neue Fehler gemacht wurden und das Kind nicht selten mit dem Bade ausgeschüttet wurde, konnte wohl nicht ausbleiben. Aber dafür gibt es das Korrektiv einer freien öffentlichen Diskussion und Kritik, so dass aus Fehlern gelernt werden kann.
 
So wie ein Heranwachsender lernen kann, die eigenen Eltern in ihren Stärken und Schwächen realistisch zu sehen, und sie trotzdem weiterhin lieben kann, so schließt auch meine Kritik an bestimmten, spezifisch deutschen Traditionsbeständen nicht aus, dass ich als Deutscher zu Deutschland ein positives Verhältnis besitze und die als wertvoll erkannten Elemente deutscher Kultur pflege und weitergebe.

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Bei der Tugend des Gemeinsinns geht es erstmal nicht um das Wohl der Menschheit, sondern um die über die eigene Familie hinausgehenden sozialen Gemeinschaften: die eigene Nachbarschaft, die eigene Gemeinde, die eigene Stadt usw. Um es einmal überspitzt zu sagen: Die Menschen sind von Natur aus ethnozentrisch veranlagt: sie kümmern sich vor allem um das Wohl der eigenen Gruppe und weniger um das Wohl anderer Gruppen.  
 
Deshalb ist es mit gutem Grund so, dass jedes Individuum und jede Gruppe erstmal für die eigenen Angelegenheiten zuständig ist. Dementsprechend hat man gegenüber der eigenen Gruppe höhere Verpflichtungen als gegenüber einer anderen Gruppe: Eltern sind gegenüber den eigenen Kindern unterhaltsverpflichtet, die Gemeinden zahlen Sozialhilfe nur an ihre eigenen bedürftigen Einwohner, es gibt einen Finanzausgleich zugunsten ärmerer Regionen im Rahmen des eigenen Staates. "Gemeinsinn" fordert den Einsatz für diese größeren, aber immer noch eigenen Lebenskreise ("unsere" Stadt, "unser" Land, "unsere" Kultur).  
 
Dass alle sich um alles kümmern, wäre sicherlich eine moralische Überforderung. (Das schließt nicht aus, dass es einzelne Menschen gibt, die sich freiwillig für notleidende fremde Gruppen und Individuen aufopfern.)

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Letzte Bearbeitung 10.05.2009 / Eberhard Wesche

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