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Die Entscheidung im eigenen Interesse


Wenn man allein auf der Welt wäre, wenn es niemanden gäbe, mit dem man in Konflikt kommen könnte oder mit dem man sich vorteilhaft zusammentun könnte, so gäbe es kein moralisches Entscheidungsproblem.

Doch auch für den isolierten Einzelnen gibt es noch Entscheidungsprobleme, denn er steht vor verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, aus denen er wählen kann und muss.

Das Entscheidungsproblem des isolierten Einzelnen kann man durch die Frage ausdrücken: "Wie soll ich in meinem 'wohlverstandenen' Interesse handeln?"

Unter dem Begriff des "Interesses" eines Individuums soll hier die Gesamtheit der Wünsche, Bedürfnisse, Ziele, Neigungen, Bestrebungen, Willensregungen etc. zusammengefasst werden, die das Individuum hat, wenn es keinerlei moralische Rücksichten nehmen muss.

Mit der Qualifizierung des Interesses als "wohlverstanden" wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Interesse des Einzelnen nicht fertig vorliegt und nur umgesetzt werden muss, sondern dass sich Menschen über ihr "wirkliches" Interesse, ihren "wahren" Willen, ihre "echten" Bedürfnisse, ihre "unbewussten" Wünsche, ihre "langfristigen" Ziele manchmal erst mühsam klar werden müssen.

Es ist eine schmerzliche Erfahrung, die jeder sicher an sich selber gemacht hat, dass wir manche unserer Entscheidungen später als "Fehlentscheidungen" ansehen, die wir besser nicht getroffen hätten. Oder anders ausgedrückt: wir "bereuen" manche unserer Entscheidungen und halten sie  nachträglich für "unklug" oder "kurzsichtig". Deshalb spricht man auch von "richtigen" und "falschen" Entscheidungen.

Ein Mensch handelt z. B. dann nicht in seinem wohlverstandenen  oder "aufgeklärten" Interesse und "unklug",
    - wenn er die Folgen seines Handelns nicht oder nicht angemessen berücksichtigt, 
    - wenn er gegebene Möglichkeiten zu handeln nicht mit einbezieht,
    - wenn er die Risiken und Ungewissheiten nicht angemessen berücksichtigt.
 
Zu Fehlentscheidungen kommt es vermehrt, wenn man "spontan", "im Affekt", "vorschnell", "voreilig", "unüberlegt", "im Zustand der Übermüdung", "unter Stress", "unter Angst", "im Rausch" handelt oder sich von vorübergehenden Stimmungen oder Gefühlen leiten lässt.

Die Alltagssprache ist voll von entsprechenden Redewendungen zu diesem Problem: Man soll wichtige Entscheidungen "nicht über' s Knie brechen", "eine Nacht überschlafen", "es sich reiflich überlegen", "gründlich prüfen" usw.

Wenn man sich in einer Entscheidungssituation fragt: "Was will ich eigentlich wirklich?" und dementsprechend handeln will, treten zwar keine Probleme der Moral auf,  jedoch Probleme der "Selbstdisziplin" :
-  Ich muss meine spontanen Impulse und  Launen im Zaum halten,
-  ich muss die Attraktivität aktueller Reize relativieren,
- ich muss meine momentanen Wünsche auf Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit  prüfen,
- ich muss u. U. die Herkunft und Entstehung meiner vorhandenen Wünsche reflektieren und unbewusste bzw. verdrängte Impulse bewusst machen,
- ich muss angesichts veränderter Umstände meine gewohnheitsmäßigen Reaktionen ausschalten,
- ich muss Anstrengungen machen, um mich besser zu informieren,
- ich muss eingefleischte Vorurteile in Frage stellen und
- ich darf gegenwärtigen Schwierigkeiten und Anstrengungen nicht aus dem Wege gehen, wenn ich dadurch später in noch größere Schwierigkeiten gerate.

Dies erfordert psychische Leistungen wie z. B. Besonnenheit, Vorsicht, Umsicht,  Weitsicht, einen "kühlen Kopf", Kreativität und Offenheit im Denken. Die zahlreichen Sprichwörter (z. B. "Spare in der Zeit, so hast du in der Not" ) und Kindermärchen (z. B. "Hans im Glück" ) zum Thema "kluge Entscheidung" zeigen die Bedeutung, die der Herausbildung dieser Fähigkeiten und Tugenden in der Erziehung beigemessen wird.

Damit der Handelnde seine Entscheidung später nicht bereuen muss, ist zum einen die Klärung der Handlungssituation und der möglichen alternativen Handlungsverläufe erforderlich.

Zum andern müssen die vorhandenen Alternativen und die darin enthaltenen Annahmen in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit bzw. Ungewissheit ihres Eintretens untersucht werden.

Drittens müssen die Alternativen und die Ungewissheiten  entsprechend dem Interesse des Handelnde bewertet werden.

Theorien der "rationalen Entscheidung" versuchen Methoden zu entwickeln, um zu "klugen" Entscheidungen zu gelangen, die man später nicht bereuen muss. 

Abschließend soll noch auf  drei Punkte besonders hingewiesen werden.

Zum einen muss man unterscheiden zwischen der "objektiven" und der "subjektiven"   Richtigkeit einer  Entscheidung.

Der Unterschied kann am Beispiel eines Arztes veranschaulicht werden, der seinem Patienten ein wirksames Medikament verschreibt, von dem sich aber nachträglich herausstellt, dass es gefährliche Nebenwirkungen hat.

Wegen der gefährlichen Nebenwirkungen war es "
objektiv" gesehen falsch, das Medikament zu verschreiben. "Objektiv gesehen" bedeutet hier: bezogen auf sämtliche vorhandenen Informationen.

Insofern als der Arzt von den gefährlichen Nebenwirkungen jedoch nichts wusste und auch nichts wissen konnte, war seine Entscheidung, das Medikament zu verordnen, "
subjektiv" gesehen richtig. "Subjektiv gesehen" heißt hier, bezogen auf den Informationsstand, über den das entscheidende Subjekt zum Zeitpunkt seiner Entscheidung verfügte.

Zum andern erfordert die Erfüllung der oben beschriebenen Anforderungen an eine rationale Entscheidungsfindung einen gewissen Aufwand, denn es müssen Informationen beschafft und verarbeitet werden. Diese "Kosten" der Entscheidung  sind u. U. größer als die Vorteile, die man durch die Wahl einer besseren Alternative gewinnen kann. In diesem Fall "lohnt der ganze Aufwand nicht", wie man zu sagen pflegt.

Wenn die Wichtigkeit einer Entscheidung für ein Individuum davon abhängt, wie groß die Werte sind, die dabei "auf dem Spiele stehen", so lohnt es sich bei weniger wichtigen Entscheidungen nicht, in eine Zeit und Kräfte verzehrende Informationsbeschaffung entsprechend dem Ideal einer rationalen Entscheidung einzusteigen.

Statt dessen werden für diese weniger wichtigen Entscheidungen stark vereinfachende "Faustregeln" angewandt. So sucht man bei Alltagsentscheidungen oft nicht nach der "besten" Alternative, sondern gibt sich zufrieden, wenn man eine "befriedigende" Alternative gefunden hat, "mit der man leben kann". Dabei bleibt man dann, und erst wenn Probleme auftauchen, stellt man diese Gewohnheiten in Frage und sucht nach besseren Lösungen.

Zum Dritten verändert sich durch die mehr oder weniger schnelle Veränderung der Wirklichkeit auch ständig die Entscheidungssituation. Alternativen, die mir heute noch offen stehen, können morgen für mich verschlossen sein. Oft muss "kurz entschlossen"   gehandelt werden, weil sich eine "einmalige Chance" bietet, die vielleicht "nie wieder kehrt". Dann darf man nicht lange überlegen sondern muss man "die günstige Gelegenheit beim Schopfe ergreifen", wie man bildhaft sagt.

Wer zaudert und zu lange das Für und Wider wälzt, kommt dann mit seiner Entscheidung zu spät: sie ist "überholt" oder "obsolet" und hat keinen praktischen Wert mehr.

Auch die Beschränkung der Zeit, die für die Entscheidungsfindung zur Verfügung  steht, erfordert in der Praxis also Abstriche vom idealen Modell der "rationalen" Entscheidung.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
 

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Letzte Bearbeitung 26.09.2005 / Eberhard Wesche

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