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Zur Nachvollziehbarkeit von Argumenten
Alle Erkenntnis, für die Allgemeingültigkeit beansprucht wird, muss sich daran 
messen lassen, ob sie auch allgemein nachvollziehbar begründet ist, wenn es mehr 
sein soll als ein Dogma. 
Das heißt, dass sich über Behauptungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit 
im Prinzip ein Konsens herstellen lassen muss.  
Dies gilt nicht nur für Behauptungen über die Beschaffenheit der Welt (wo eine 
intersubjektiv und intertemporal übereinstimmende Wahrnehmung den Konsens 
stiften kann) sondern auch für moralische Urteile.  
Wenn man davon ausgeht, dass moralische Konflikte aus miteinander nicht 
zu vereinbarenden Interessen entstehen, so kann es zu einem zwangfreien, auf 
Argumente gestützten Konsens nur kommen, wenn jeder Beteiligte seine eigenen 
Interessen nicht wichtiger nimmt als die der Anderen, d. h. wenn jeder die 
vorhandenen Interessen unparteiisch und wohlwollend berücksichtigt und 
gegeneinander abwägt.   
Dies setzt voraus, dass man  die Interessen der andern kennt und gewichtet.  
Dazu ist es erforderlich, dass man sich auch in die Lage aller andern 
hineinversetzt und dadurch gewissermaßen einen allgemeinen Standpunkt einnimmt. 
 
Dies muss jeder tun, der beansprucht, etwas Allgemeingültiges zum Problem sagen 
zu können. Wenn er dazu nicht 
willens oder nicht in der Lage ist, dann kann er auch kein Argument zu der Frage 
beitragen, wie eine allgemeingültige Regelung des Konflikts aussehen könnte. 
 
 
***
In empirischen Fragen kann eine zwanglose Übereinstimmung letztlich 
durch die intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmung erreicht werden. Die 
Behauptung "Quecksilber erstarrt bei ca. -38 Grad Celsius"   kann durch den 
Hinweis gestützt werden: "Beobachte das Thermometer und merke Dir den Wert, 
bei dem das Quecksilber beim Abkühlen fest wird."      
Von den Beschreibungen der 
individuellen Wahrnehmungen (Dennis: "Ich sehe den Zeiger bei minus 38", 
Philipp: "Ich sehe den Zeiger auch bei minus 38"  ) gelangt man zu der subjektfrei 
formulierten empirischen Aussage: "Der Zeiger steht 
bei minus 38 Grad Celsius, wenn das Quecksilber erstarrt".  
Diese intersubjektive Übereinstimmung der Wahrnehmungen ist kein Zufall, denn 
jeder hat ja die Sprache zur Beschreibung seiner Wahrnehmungen von anderen 
gelernt, d. h. es besteht bereits eine intersubjektiv funktionierende Sprachgemeinschaft, auf der die 
Wissenschaft aufbauen kann.   
 
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Man kann jedoch auch bei empirischen Fragen in Schwierigkeiten mit der 
intersubjektiven Nachvollziehbarkeit kommen. Ich liege wohl nicht falsch, wenn 
ich sage, dass der überwiegende Teil meines Wissens über die Welt nicht auf 
eigener Wahrnehmung beruht. Ich war z. B. noch nie in Australien. Trotzdem halte 
ich zahllose Aussagen über Australien für wahr, z. B. dass es dort verschiedene 
Arten von Beuteltieren gibt. Ich vertraue in diesen Fragen also auf die 
Berichte, die andere Menschen von ihren Aufenthalten in Australien geben sowie 
auf die Inhalte audio-visueller Medien. Entsprechendes gilt für den 
überwiegenden Teil meines Weltbildes. Ist ein derartiges Vertrauen 
gleichzusetzen mit einer intersubjektiven Nachprüfbarkeit der Aussagen?  
Noch schwieriger ist die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Behauptungen über 
Vergangenes. Es kommt vor, dass es keine Augenzeugen für bestimmte Ereignisse 
gibt, z. B. für das Aussterben der Dinosaurier oder für die Himmelfahrt des Jesus 
von Nazareth. Was ist in diesem Fall eine einsichtige, intersubjektiv 
nachvollziehbare Begründung für ein behauptetes Ereignis?   
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Wenn Ethik eine Wissenschaft sein soll, dann muss – wie in andern Wissenschaften auch – die methodische Regel gelten, dass nur Argumente zulässig sind, die intersubjektiv nachvollziehbar und akzeptabel sind. Diese methodische Regel ist in der bisherigen ethischen Diskussion nach meiner Kenntnis bisher nicht strikt eingehalten worden, und es ist bisher nicht systematisch die Frage gestellt worden: "Was sind die Bedingungen für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Konsensfähigkeit von Normen und deren Begründungen?"
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Moralische und rechtliche Normen werden benötigt, um 
soziale Konflikte (A tut etwas, was B nicht will) und deren schädliche Folgen 
(Streit, Kampf, Krieg, Unterdrückung) zu beschränken. 
Außerdem werden sie benötigt, um koordiniertes Handeln (Kooperation) und dessen 
Vorteile (Planungssicherheit in Bezug auf die Zukunft, Arbeitsteilung und 
Spezialisierung) zu fördern.  
Es bestehen in Bezug auf die Behandlung sozialer Konflikte zwei grundlegende 
Möglichkeiten: Entweder, man trägt die Konflikte – notfalls gewaltsam – aus, 
oder man versucht, sich gewaltlos zu einigen und nach Regelungen des Handelns zu 
suchen, die für alle Beteiligten akzeptabel sind.  
Wenn man sich dafür entscheidet, einen allgemeinen Konsens zu suchen, dann 
verzichtet man auf jede Form des Zwanges bei der Bestimmung der anzuwendenden 
Normen, man hat als Mittel der Auseinandersetzung nur Argumente. 
Wenn man so will, ist der einzige Zwang der Zwang zum Konsens. Ziel ist die 
Bestimmung moralischer und rechtlicher Normen, deren faktische Geltung "vernünftig", d. h. durch einsichtige Argumente begründet werden kann. 
Ähnlich, wie bei empirischen Fragen entscheidend ist, was alle übereinstimmend 
wahrnehmen können, so ist bei normativen Fragen das entscheidend, was alle gemeinsam 
wollen können, (ob man es nun "volonté générale", "Gemeinwohl"   oder "Gesamtinteresse"   nennt). 
 
Es ist ohne weiteres möglich, sich gegen die Suche nach einem begründeten 
Konsens zu entscheiden. Aber derjenige, der dies macht, verliert damit 
gleichzeitig die Möglichkeit, in irgendeiner Weise in Bezug auf Normen des 
Handelns "recht"   zu haben, wenn "Rechthaben"   mehr sein soll als die Verkündung 
eines Dogmas, das geglaubt und befolgt werden soll. Er hat die Ebene der 
Argumentation von sich aus aufgekündigt, aber ohne einsichtige Argumente lassen 
sich Geltungsansprüche für Normen weder rechtfertigen noch kritisieren. 
Wenn dieser Gedankengang richtig ist, dann haben wir mit dem angestrebten, 
allein auf einsichtigen Argumenten beruhenden Konsens ein – sicherlich noch 
präzisierungsbedürftiges - Kriterium, um gute von schlechten Argumenten zu 
unterscheiden und um richtige von falschen Antworten zu unterscheiden.  
Der dargelegte Gedankengang ist für mich das entscheidende Fundament jeglicher 
rationalen, wissenschaftlichen Erkenntnis. Wer diesen Gedankengang nicht 
nachvollzogen und verstanden hat, kann alles spätere nur halb verstehen.
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Gesucht sind Normen des Zusammenlebens, die für alle Beteiligte aufgrund von 
Argumenten einsichtig gemacht werden können, die insofern auch als "vernünftig 
begründet"   bezeichnet werden können.  
Diejenigen, die nicht in der Lage sind, die Argumente zu verstehen, 
sind unmündig und scheiden aus der moralischen Diskussion aus.
Diejenigen, die nicht akzeptieren, dass nur intersubjektiv nachvollziehbare 
Argumente zulässig sind, stellen sich damit selber außerhalb der Diskussion. Da 
es Ihnen offensichtlich nicht um ein Zusammenleben nach allgemein einsichtigen 
Normen geht, definieren sie sich selber als Individuen, die sich die Verfolgung 
ihrer eigenen Interessen auf Kosten anderer vorbehalten.
Mit ihrer Weigerung, die Regeln der Intersubjektivität anzuerkennen, verzichten 
sie auch auf die Möglichkeit, ihrerseits eine Kritik zu üben, die mehr ist als eine 
subjektive Willensäußerung. Sie können zwar noch sagen: "Ich will nicht, dass du so 
handelst!"   aber sie können dies nicht mehr tun mit dem Anspruch, dass es für den 
anderen eine irgendwie einsichtige Pflicht gäbe, die Handlung zu unterlassen. 
Sie können den andern zwar sanktionieren, sie können diese Sanktion jedoch nicht 
als berechtigte Strafe hinstellen.
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Aus einer Diskussion
Ich habe die Auffassung vertreten, dass eine Behauptung, für die Wahrheit im 
Sinne von allgemeiner Gültigkeit beansprucht wird, durch nachvollziehbare 
Argumente begründet sein muss, wenn es kein bloßes Dogma sein soll, das Glauben 
fordert.  
Dagegen schreibst Du: "Die wirklichen Verhältnisse müssen doch der Maßstab sein, 
an denen sich richtig und falsch messen lassen müssen. Es ist völlig 
unerheblich, ob jemand das Newtonsche Gravitationsgesetz für einsichtig 
begründet hält oder nicht. Es funktioniert."      
Meine Frage an Dich: Woher wissen wir denn, dass es funktioniert? Wie begründet 
denn der Physiker die Gravitationstheorie? Er sagt letztlich: "Miss doch selber 
nach und überzeuge Dich doch mit Deinen eigenen Augen davon, dass es so ist, wie 
die Theorie besagt!"   
Dadurch, dass wir übereinstimmend wahrnehmen, dass ein freier Fall - wie von der 
Theorie vorhergesagt - z. B. 12 Sekunden gedauert hat, ergibt sich die 
Möglichkeit eines zwanglosen, nachvollziehbaren Konsenses in empirischen Fragen.
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Eine Vielzahl methodischer Prinzipien zur Herstellung von Intersubjektivität wird bereits in den empirischen und logisch-mathematischen Wissenschaften bereitgestellt.
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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
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Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht
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Argumenten"  
Letzte Bearbeitung 23.04.2007 / Eberhard Wesche
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