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PhilTalk-Diskussion
 

Wahrheit II

 

- II
- Eberhard am 27. Okt. 2004, 11:32 Uhr

Hallo allerseits,

dies ist die Fortsetzung der von sophilos begonnenen Diskussion zu "Wahrheit". Er hatte gefragt: "Was ist eigentlich Wahrheit bzw. was heißt es, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr?"

Es grüßt alle Interessierten Eberhard.

Die web-Adresse von "Wahrheit I" ist:  http://www.philtalk.de/msg/1078500970.htm

- II
- Eberhard am 27. Okt. 2004, 11:34 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

zuallererst muss ich ein Missverständnis ausräumen. Mein letzter Satz, der Deine Position wiedergeben sollte, war missverständlich formuliert. Ich hatte geschrieben: "Die Deutungszusammenhänge beziehen sich zwar letztlich auf die gleiche Wirklichkeit, es ist jedoch nicht möglich, über deren Wahrheitsgehalt etwas auszusagen."

Das Relativpronomen "deren" sollte sich auf "Deutungszusammenhänge" beziehen und nicht auf "Wirklichkeit", wie Du verstanden hast.

Gemeint ist also, dass es nach Deiner Ansicht offenbar nicht möglich ist, über den Wahrheitsgehalt der verschiedenen Deutungszusammenhänge etwas auszusagen, die sich gleichwohl letztlich auf die gleiche Wirklichkeit beziehen.

Ich hoffe, dass ich damit Deine Position auch nach Deiner Ansicht richtig und unmissverständlich wiedergegeben habe und dass wir hier – zumindest vorläufig - zu einer gemeinsamen Sprache gefunden haben, was ja – wie gesagt – eine notwendige Voraussetzung für die Erörterung  strittiger Positionen und Behauptungen ist.

Womit wir mitten im Thema wären. Wenn ich einen Satz als "wahr" auszeichne, dann impliziert das immer den Bezug zu einer bestimmten Sprache, durch welche die Bedeutung der in dem Satz verwendeten Wörter und damit die Bedeutung des Satzes bestimmt wird. Genau genommen müsste man also nicht nur sagen: "Der Satz p ist wahr" sondern immer spezifizieren: "Der Satz p ist wahr in der Sprache L1." (Dabei gelten Sprachen, die in einander übersetzbar sind, als eine Sprache.)

Damit ist auch festgelegt, für wen ein Anspruch auf die Wahrheit eines bestimmten Satzes gilt: Er gilt für alle, die die Sprache L1 verstehen, in der die Behauptung geäußert wird. Es handelt sich also nicht um eine abzählbare Menge von Individuen, sondern um eine unbegrenzte Menge von Individuen (alle, die die Sprache L1 bereits erlernt haben oder dies zukünftig tun werden). Damit ist Deine Frage nach der Bedeutung von "allgemein" in dem Satz "Wenn jemand einen Satz als 'wahr' auszeichnet, dann beansprucht er für diesen Satz allgemeine Geltung" beantwortet.

Auf das Delphin-Beispiel angewandt bedeutet das. Abriander und Obriander verstehen unter "Delphinen" die gleiche Art von Lebewesen, jedoch ist für die Abriander der Satz "Delphine sind Säugetiere und keine Fische" wahr und für die Obriander ist der Satz falsch.

Das Problem kann dadurch entstehen, dass für die Abriander die Worte "Säugetier" und "Fisch" eine andere Bedeutung haben als für die Obriander, d. h. dass es zwei Sprachen, die Sprache L(A) und die Sprache L(O), gibt.

Das Problem verschwindet also, wenn man sagt: "Der Satz 'Delphine sind Säugetiere und keine Fische' ist wahr in der Sprache L(A) aber falsch in der Sprache  L(O)."

Es grüßt Dich und alle Interessierte Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 27. Okt. 2004, 11:55 Uhr

Hallo Eberhard!

Zitat:

Gemeint ist also, dass es nach Deiner Ansicht offenbar nicht möglich ist, über den Wahrheitsgehalt der verschiedenen Deutungszusammenhänge etwas auszusagen, die sich gleichwohl letztlich auf die gleiche Wirklichkeit beziehen.


Ob es "die gleiche" Wirklichkeit ist, das lässt sich wohl nicht abschließend entscheiden, weil es dazu eines standpunktlosen Standpunkts jenseits aller Interpretationen bedürfte.
Wohl lassen sich verschiedene Deutungszusammenhänge (natürliche und künstliche Sprachen, Theorien...) mit einander vergleichen und an einer von ihren Einschränkungen unabhängigen Wirklichkeit überprüfen. Aber mit der Etablierung einer solchen Vergleichsinstanz befindet man sich wiederum in einem selektiv begrenzten Deutungszusammenhang. Und es fragt sich, ob die Angehörigen der von hier aus verglichenen Welten sich in dieser Vergleichsinstanz, ihrer Sprache und Wirklichkeit wiedererkennen würden. Nur wenn das der Fall wäre - also a posteriori, NACH praktischen Verständigungsprozessen zwischen den verschiedenen Weltenbewohnern - ließe sich berechtigt von einer von allen BETEILIGTEN geteilten Welt/Sprache/Wirklichkeit reden. Es ist aber davon auszugehen, dass bestimmte Reste der einen Welt sich niemals in die Sprache einer anderen Welt übersetzen lassen - so wie wir das im Verhältnis Lebenswelt - Wissenschaftssprache dauernd beobachten.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 27. Okt. 2004, 13:35 Uhr

hallo,

ich melde mich -falls es erwünscht ist- auch gerne in dem fortgesetzten thread zu wort.

eine gewisse gruppe von sätzen scheinen mir diesem sprachlichen relativismus zu widersprechen. und ich würde gerne hören, was die vertreter dieser richtung dazu zu sagen haben. es handelt sich um sätze wie "wenn ich einen gegenstand loslasse, fällt er zu boden".
mich interessiert, inwiefern dieser aussage ein wahrheitswert zugeschrieben werden kann, und ob diese aussage nicht eine aussage ist, die ihren wahrheitswert unabhängig von sprachgrenzen, sozusagen über diese grenzen hinweg, behält.

im prinzip verläuft die diskussion in richtung: gibt es ein factum brutum jenseits aller sprachgrenzen?
und bisher habe ich keinen grund zur annahme, dass dem nicht so ist. ich vertrete bisher die auffassung, dass eine struktur der wirklichkeit existiert, die auch prinzipiell jedem, wenn auch nicht in voller breite zugänglich ist. wenn wir physikalischen tatsachen wie der "schwerkraft" begegnen, so ist deren wirkung wohl allen zugänglich. und egal wie "schwerkraft" interpretiert wird, sie ist eine kultur-unabhängige wirkung innerhalb der "natur" auf alles in ihr befindliche. wir haben es mit einer art barriere zu tun, die gewisse interpretationen ausschließt - namentlich diejenigen, die behaupten, eine solche wirkung sei nicht existent, bzw. die eine weltdeutung entgegen der schwerkraft versuchen.
die struktur der wirklichkeit bedingt, dass es grenzen der interpretation gibt. lebewesen müssen nahrung zu sich nehmen, um zu überleben; schwerkraft wirkt auf den menschen ein; wasser ist H20 und nicht H2SO4, etc.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 27. Okt. 2004, 14:12 Uhr

Hallo Thomas!


on 10/27/04 um 13:35:46, jacopo_belbo wrote:

eine gewisse gruppe von sätzen scheinen mir diesem sprachlichen relativismus zu widersprechen. und ich würde gerne hören, was die vertreter dieser richtung dazu zu sagen haben. es handelt sich um sätze wie "wenn ich einen gegenstand loslasse, fällt er zu boden".


Ein Satz wie dieser ist ohne Zweifel wahr.
Wenn Du aber von "der Schwerkraft" sprichst, musst Du erklären, was genau Du damit meinst und aus welchen Gründen Du behaupten kannst, diese so und so definierte Schwerkraft sei die Ursache dafür, dass ein Gegenstand, den Du loslässt, zu Boden fällt.

Ich möchte zur Geltung bringen, dass "die Schwerkraft", von der in der Physik die Rede ist, und die "Schwerkraft", von der wir gewöhnlich reden, zweierlei sind. Am Beispiel von "Wasser" und "H2O" hatte ich etwas Ähnliches schon zu verdeutlichen versucht.

Dass die intensionale Bedeutung des Begriffs "Wasser" sich erheblich von der des Begriffs "H2O" unterscheidet, wirst Du wohl kaum bestreiten können. Oder zeichentheoretisch gesagt: "H2O" hat ein anderes Signatum als "Wasser". Oder noch einmal anders: Der Ausdruck "H2O" entstammt der Sprache der Chemie und hat im kategorialen Gefüge dieser Sprache eine genau festgelegte, normierte Bedeutung. Der umgangssprachliche Ausdruck "Wasser" ist dagegen weit entfernt von einer solchen klar umrissenen Bedeutung, denn er wird auf sehr vielfältige Weise gebraucht.

Möglicherweise haben die beiden verschiedenen Ausdrücke und die beiden verschiedenen Signata denselben Referenten (oder semantisch: dieselbe Extension). Aber das ist eben nicht so selbstverständlich, wie Du behauptest.

Wenn ich eine Probe von dem "Wasser", mit dem ich meinen Tee koche, zu einem Chemiker bringe, wird er z. B. feststellen, dass sich außer H2O-Molekülen noch eine Menge mehr Stoffe und Lebewesen darin befinden. Trotzdem ist es offenbar keine Lüge, wenn ich sage: "Ich koche meinen Tee mit Wasser." Ich koche meinen Tee jedenfalls NICHT mit H2O, also der reinen Flüssigkeit, die der existierende Referent  dieser chemischen Formel ist. Eine Entität, die genau das ist, was die Formel bezeichnet, gibt es nur unter Laborbedingungen (und wäre für uns, die wir Wasser zum Leben brauchen, auf die Dauer auch ungenießbar). Überall sonst auf der Welt bezeichnet "Wasser" KORREKT eine sehr viel komplexer zusammengesetzte Flüssigkeit.

Darum versteht sich die Behauptung alles andere als von selbst, "H2O" sei bloß ein anderes Etikett dessen, was wir sonst als "Wasser" bezeichnen und mit dem wir dauernd umgehen.  

Findest Du, dass diese Überlegungen "relativistisch" sind oder nur etwas präziser über die - etwas komplexere - Wirklichkeit sprechen, "wie sie nun einmal ist" ?

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 27. Okt. 2004, 15:18 Uhr

hallo hermeneuticus,

einverstanden. engen wir die diskussion ein wenig ein. wenn wir beim H2O-beispiel bleiben, heißt das aber, dass es sich herausgestellt hat, dass chemisch gesehen, H20 charakteristisch für wasser ist. und in allen fällen, wo wir von H2O spechen handelt es sich um "wasser". gesetzt den fall, wir kämen in eine parallelwelt, in welcher eine andere chemische substanz so genutzt wird, wie in unserer welt das wasser (e.g. die substanz fließt durch flüsse, fühlt sich naß an, wird dort zum teekochen verwandt), so hätten wir es dennoch nicht mit unserem wasser zu tun; eher mit "narrenwasser", was einige eigenschaften mit unserem wasser gemein hat, nicht jedoch die chemische zusammensetzung.
wenn wir also chemisch gesehen von wasser sprechen, so sprechen wir von H2O und nicht von H2SO4.

auf deine einwände bezogen, müßte gefragt werden, ob H20 nicht mehr wasser ist, wenn sich zum beispiel Kochsalz in ihm befindet. ich bin zwar kein chemiker, aber ich denke die korrekte antwort ist, dass es sich in diesem fall nicht mehr um wasser (per se) handelt, sondern um eine kochsalzlösung - vielleicht korrigiert mich ja jemand. insofern ist das wasser, mit welchem du deinen tee kochst, chemisch gesehen kein wasser, sondern eher eine lösung verschiedenster stoffe in wasser. wir hätten es in dem fall -genau gesehen- mit homonymie zu tun.
von da aus sind auch die intensionalen unterschiede zu deuten. es heißt ja schließlich "wasser des lebens" und nicht "H2O des lebens". auch wenn chmisch gesehen H2O wasser ist. so sind die ausdrücke nicht synonym mit denen unserer alltagssprache.
das ändert aber nichts an der tatsache, dass, chemisch gesehen, wasser H20 ist. und das diese tatsache eine notwendige, wenn auch a posteriori erst ermittelte ist.

ich denke, dass wir uns aber in einem anderen punkt eher nähern können. wenn wir zum beispiel das farbspektrum betrachten, so haben wir es mit einem kontinuum von elektromagnetischen wellen mit einer wellenlänge zwischen 400 und 750 nanometern zu tun.
gehen wir einmal von einem idealtypischen fall aus, dass wir es nicht mit farbblinden oder anderweitig sehbehinderten menschen zu tun haben, so fällt die unterteilung des objektiv gegebenen farbspektrums nicht bei allen menschen gleich aus. ob zum beispiel eine wellenlänge von 500 nanometern noch als "cyanblau" gewertet wird, oder schon als "grün", ist interpretationssache. wie das kontinuum der farben interpretiert wird ist schwer objektivierbar. dass aber genau der ausschnitt zwischen 400 und 750 nanometer wahrgenommen wird - und nicht zum beispiel elektromagnetische strahlung von 900 nanometern ist keine interpretationssache.
es gibt eine für das bloße auge gegebene natürliche barriere. es ist daher auch nicht verwunderlich, dass wir keine differenzierenden farbnamen für licht mit der wellenlänge von 900-925 nanometern haben.
und diese grenze ist ebenso kulturell unabhängig wie die tatsache, dass chemisch gesehen wasser H2O ist.

meine vorläufige hypothese ist, dass sich der kulturelle "interpretations-spielraum" auf kontinua beschränkt. wir können eine klassifikation der farbnamen vornehmen, ebenso wie die unterscheidung "tag" und "nacht". wir haben es aber andererseits auch mit grenzen zu tun, die unsere interpretationsmöglichkeiten einschränken. zum beispiel ist wasser chemisch gesehen H20 und nichts anderes.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 27. Okt. 2004, 15:29 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin der Meinung, dass ich die Frage, ob eine bestimmte Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wahr ist oder nicht, mit jedem beliebigen Individuum diskutieren kann, sofern eine Verständigung zwischen uns mittels einer  gemeinsamen Sprache (oder mehrerer ineinander übersetzbarer Sprachen) möglich ist.

Dabei erfolgt keine Relativierung durch jeweilige "Deutungszusammenhänge" und es gibt auch keinen Eurozentrismus, denn es muss nicht meine Sprache sein, in der die Aussage und die Argumente für und wider formuliert werden.

Wenn es dabei Schwierigkeiten gibt – was ich nicht ausschließe -, dann müssen sie bei der sprachlichen Verständigung sichtbar werden,

meint Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 27. Okt. 2004, 15:38 Uhr

Hallo miteinander!

Ich will am Beispiel von "Wasser" und "H2O" auch noch kurz erläutern, was ich mit der selektiven begrifflichen Konstitutierung eines Gegenstandes meine.

Die Flüssigkeit, die uns aus unserer Lebenswelt vertraut ist und die wir DORT korrekt als "Wasser" bezeichnen, ist für die Chemie nur zum Teil von Interesse. Sie interessiert sich nur für deren "elementare" Zusammensetzung und für das beobachtbare Verhalten (die "Reaktionen" ) der Grundbestandteile unter bestimmten Bedingungen sowie die dabei feststellbaren Regelmäßigkeiten. (Ein Chemiker könnte erheblich präziser sagen, worin das spezifisch chemische Interesse am "Wasser" /" H2O" besteht...) Jedenfalls würde ein Chemiker, wenn er mit "H2O" experimentieren will, zuerst einmal die Flüssigkeit herstellen müssen, die genau dieser Formel entspricht; er kann nicht einfach den Wasserhahn aufdrehen und das benötigte Quantum abzapfen. Sonst käme er zu Resultaten, die in der Chemie unbrauchbar (" Verfälscht" ) wären.
Umgekehrt ist wohl niemand von uns, der kein Chemiker ist, jemals mit "H2O" im strikten Sinne in Berührung gekommen.

Man kann also wohl sagen, der GEGENSTAND H2O, über den die Chemiker zutreffende Aussagen machen, und die existierende Flüssigkeit, die sie mit H2O bezeichnen, ist nur ein TEIL des sonst überall auf der Erde vorkommenden Wassers. Es ist nur derjenige Teil, der für ihre Untersuchungen relevant ist.
Während das auf der Erde vorkommende Wasser überall verschieden zusammengesetzt ist, ist das H2O der Chemiker IMMER DIESELBE Entität. Aber wie angedeutet: Es bedarf bestimmter, normierter technischer Verfahren, um erst einmal genau diese Entität herzustellen. "H2O" ist also nicht nur ein "Kunstausdruck", auch sein existierender Referent ist ein künstliches Produkt.
Das "natürliche" Wasser dagegen, also das überall auf der Erde anzutreffende, ist für den Chemiker unbrauchbar, weil es stets "verunreinigt" ist - jedenfalls im Hinblick auf die chemische Norm von "Reinheit". Auch lebensweltlich kann Wasser "verunreinigt" sein, nur legen wir dabei einen ganz anderen Standard von "Reinheit" zugrunde (vielleicht "Genießbarkeit" oder "Klarheit" ).

Wenn ich also von der "Konstituierung" eines chemischen Gegenstands "H2O" spreche, dann ist damit nicht nur die Terminologie gemeint, sondern zugleich auch die ENTITÄT in der Wirklichkeit, auf die der Terminus referiert. Sehr wichtig ist dabei der Umstand, dass "H2O" nicht einfach ein "gegebenes" Ding ist, dessen "Eigenschaften" man "beschreibt", sondern dass der Begriff "H2O" zugleich einen technischen Standard festlegt, also auch ein NORMATIVER Ausdruck ist - nämlich für die HERSTELLUNG jener Entität, an der die chemischen "Gesetzmäßigkeiten" dann zu verifizieren sind.

Dass "Wasser" bei 100 Grad C siedet, ist bereits eine normative Festlegung. Damit nämlich Wasser TATSÄCHLICH bei 100 Grad C kocht, muss ein bestimmter Luftdruck gegeben sein und muss es sich um REINES Wasser handeln. Empirisch wird es dann sehr häufig vorkommen, dass Wasser eben NICHT bei exakt 100 Grad C kocht. Aber das wird keinen Chemiker veranlassen, seine Theorien zu revidieren und "den ontischen Tatsachen anzupassen". Sondern er wird stattdessen untersuchen, welche der Randbedingungen nicht den normierten Voraussetzungen entsprechen (Luftdruck, Zusammensetzung des Wassers usw.).


Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 27. Okt. 2004, 15:57 Uhr

hallo zusammen,

was ja eigentlich nur das wiedergibt, was ich oben referiert habe, dass wenn chemiker von "wasser" reden und laien von "wasser" reden sie das gleiche wort für zwei verschiedene sachverhalte verwenden (wasser in reinform und wasser als teil einer lösung - mir fehlt gerade der passende terminus technicus). das ändert nichts an der tatsache, dass wasser H2O ist, sondern zeigt, wie sich der sprachgebrauch eines chemikers von dem eines laien unterscheidet.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 28. Okt. 2004, 03:04 Uhr

Hallo Thomas!


on 10/27/04 um 15:57:18, jacopo_belbo wrote:

was ja eigentlich nur das wiedergibt, was ich oben referiert habe....


Ich fürchte, darauf können wir uns nicht einigen.

Zitat:

... dass wenn chemiker von "wasser" reden und laien von "wasser" reden sie das gleiche wort für zwei verschiedene sachverhalte verwenden (wasser in reinform und wasser als teil einer lösung). das ändert nichts an der tatsache, dass wasser H2O ist, sondern zeigt, wie sich der sprachgebrauch eines chemikers von dem eines laien unterscheidet.

Was Du hier eine "Tasache" nennst (" Wasser ist H2O" ), verstehe ich als Behauptung einer Äquivalenz zweier Ausdrücke, die in verschiedenen Sprachen jeweils einen anderen Sachverhalt bezeichnen und auch auf verschiedene Entitäten in der Welt referieren.

In meinen letzten Beiträgen habe ich versucht anzudeuten, dass "Wasser" und "H2O" nicht nur einem je eigenen SPRACHGEBRAUCH zugehören, sondern auch unterschiedlichen menschlichen Praxen. "Wasser" gehört in vielfältiger Form zu unserer Lebenswelt, wir haben es in uns, wir gehen damit um, wir trinken es... H2O gibt es nur in Laboren, es bedarf normierter technischer Verfahren, um es zu gewinnen, man muss die "störenden" Einflüsse der natürlichen Umgebungen ausschalten usw.
Ich wollte damit geltend machen, dass "Gegenstände" eben nicht nur Gegenstände einer theoretischen Analyse, einer distanzierten Beobachtung und Beschreibung, sondern stets in menschliche Praxen eingebunden sind.


Wenn Du sagst, "H2O" sei die "Reinform" von "Wasser", behauptest Du etwas anderes als "Wasser ist H2O". Denn die "Reinform" von Etwas ist nicht identisch mit diesem Etwas, sondern bezeichnet eine Teilmenge von Eigenschaften, die zugleich als die "wesentlichen" und invarianten ausgezeichnet werden. Aus der Reinform "H2O" sind alle unwesentlichen und varianten Beimischungen, die das empirisch vorfindliche "Wasser" aufweist, weggelassen.

Das ist wie mit Platons "Pferdheit", die nur das bezeichet, was allen empirischen Pferden gemeinsam ist, also ihr "Wesen". Die Pferdheit macht, dass Pferde Pferde sind (so wie H2O Wasser zu wirklichem Wasser macht). Und zugleich stellt das Wesen auch die selektiven Kriterien bereit, anhand derer man beliebig vorkommende Entitäten z. B. ALS Pferde oder ALS Wasser sicher identifizieren kann.
Die Erinnerung an Platon ist auch insofern nicht ganz abwegig, weil es wohl keine empirische Flüssigkeit geben dürfte, die strictu sensu NUR aus H2O besteht; da mögen sich die Laboranten noch so anstrengen, sie werden nur Annäherungen zustande bringen...

Die Orientierung an "Reinformen" hat ihre Berechtigung, aber auch ihre weniger schönen Nebenfolgen. Das Verhältnis von empirisch vorfindlicher Welt und Idee wird auf den Kopf gestellt. All das Wasser, mit dem wir in unserer Wirklichkeit zu tun bekommen, ist stets nur "unreines" Wasser. Und wenn in der Lebenswelt von "Wahrheit" die Rede ist, dann ist damit eigentlich nur ein vorläufiger Pfusch gemeint, denn nur Philosophen oder Wissenschaftler stellen Behauptungen auf, die wirklich von universeller Geltung sind (bzw. begründen ihre Aussagen mit wirklich allgemein konsensfähigen Argumenten). Die Orientierung an "Reinformen" lässt unsere leiblich-empirische Existenz im Unreinen versinken und belädt uns mit Idealen, an denen wir uns messen lassen müssen, ohne sie jemals zu erreichen. Alles Vorfindliche - auch in der Natur - wird dann zur Schlamperei...

Es sind diese unangenehmen "metaphysischen" Nebenfolgen, um deren Vermeidung willen man versuchen könnte, jeder Praxis ihre regionale Berechtigung und Autonomie zu lassen. Man könnte versuchen, all die vielen Facetten der gelebten Wirklichkeit nicht a priori als "unwesentlich" abzustufen, indem man sie auf eine zentrale Norm, eine "Reinform" verpflichtet, die allenfalls von einigen Experten erfüllt und verwirklicht werden kann (und nicht einmal von ihnen in vollkommener Weise).
Die Rede von den Interpretationswelten - die Du hier als "Relativismus", also als Aufweichung der strengen, reinen, zentralen, universellen Wahrheitsgeltung abgetan hast - ist letztlich nur ein Versuch, den gelingenden Praxen endlicher Wesen ihre eigene, diesseitige Vollkommenheit zu lassen.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 28. Okt. 2004, 07:57 Uhr

hallo hermeneuticus,

deine kritik geht am eigentlichen punkt vorbei - ich möchte nicht sagen, sie sei nebensächlich; aber beinahe.
die ursprüngliche behauptung von mir war ja die, dass es eine struktur der wirklichkeit gibt, die prinzipiell allen menschen offen steht und zumindest partiell erkannt werden kann. als beispiel dafür habe ich angeführt, dass chemiker herausgefunden haben, dass wasser H20 ist. nun hast du eingewandt, dass
Zitat:

Man kann also wohl sagen, der GEGENSTAND H2O, über den die Chemiker zutreffende Aussagen machen, und die existierende Flüssigkeit, die sie mit H2O bezeichnen, ist nur ein TEIL des sonst überall auf der Erde vorkommenden Wassers.

dadurch hast du 2 fehler begangen:

· den ersten könnte man weitestgehend als "stroh-mann" bezeichnen. du benutzt ein homonym, um die falschheit meiner behauptung nachzuweisen. indem du die diskussion von "wasser" im chemischen sinne auf "wasser" im alltäglichen sinne ausgedehnt hast, versuchst du mir nachzuweisen, dass meine behauptung falsch ist. ein sophistischer fehlSchluss.

· der zweite fehler besteht darin, dass du einerseits meine behauptung, "wasser ist H2O" abzulehnen scheinst, aber die eigentliche behauptung, dass es eine struktur der wirklichkeit gibt, die erkennbar ist, zugestehst. mit anderen worten sagst du, dass zwar "wasser" im alltäglichen sinne nicht identisch ist mit H2O, also "wasser" im sinne der chemiker, aber dennoch H2O bestandteil dessen ist, was wir "wasser" im alltäglichen sinne nennen.

an diesem punkt können wir die diskussion beilegen, weil du mir den eigentlichen punkt, dass es eine erkennbare struktur der wirklichkeit gibt, zugestanden hast
Zitat:

H2O gibt es nur in Laboren, es bedarf normierter technischer Verfahren, um es zu gewinnen, man muss die "störenden" Einflüsse der natürlichen Umgebungen ausschalten usw.

Zitat:

Die Erinnerung an Platon ist auch insofern nicht ganz abwegig, weil es wohl keine empirische Flüssigkeit geben dürfte, die strictu sensu NUR aus H2O besteht;

Zitat:

Man kann also wohl sagen, der GEGENSTAND H2O, über den die Chemiker zutreffende Aussagen machen, und die existierende Flüssigkeit, die sie mit H2O bezeichnen, ist nur ein TEIL des sonst überall auf der Erde vorkommenden Wassers.

Zitat:

Wenn ich eine Probe von dem "Wasser", mit dem ich meinen Tee koche, zu einem Chemiker bringe, wird er z. B. feststellen, dass sich außer H2O-Molekülen noch eine Menge mehr Stoffe und Lebewesen darin befinden.


(und das sind ausschließlich belege, die ich in diesem thread finden konnte).

wir können also festhalten, dass es erkennbare strukturen der wirklichkeit gibt, namentlich wasser als H2O - im sinne der chemiker.
folglich ist die behauptung, dass die kernbestandteile des wassers, sowohl wasser als auch sauerstoff (im verhältnis 2:1) wahr - weil nachweisbar wahr.
ich denke, dergleichen beispiele lassen sich noch etliche mehr angeben.

im wesentlichen ging es mir darum aufzuzeigen, dass dem was du "verschiedene interpretationswelten" nennst, eine objektive, weil vom objekt her vorgegebene struktur zugrunde liegt. in diesem falle die struktur des wassers. wasser ist ohne H2O kein wasser, auch wenn diese flüssigkeit naß ist, durch flüsse fließen sollte, und sich jemand -gottbewahre- tee damit kochen sollte. und das gilt in allen möglichen welten.

was mich eigentlich verwundert ist dein beharren auf dem wasser-H2O beispiel. ich habe längst ein besseres beispiel gegeben (farbnamen), anhand deren sich eine diskussion entfalten könnte. leider bist du nicht darauf eingegangen.

- mfg thomas

p.s.:
Zitat:

Aber hier betreiben wir Philosophie...

 

- II
- Eberhard am 28. Okt. 2004, 10:40 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Die Frage, um die es in dieser Diskussionsrunde geht, lautet:
             
"Was heißt es, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr?"

Es wird also nach der Bedeutung des Wortes "wahr" im Zusammenhang mit Aussagen gefragt. Damit man sich sinnvoll über die Richtigkeit mögliche Antworten streiten kann, müssen alle Diskussionsteilnehmer die Frage im selben Sinne verstehen.

Bei der aufgeworfenen Frage muss deshalb Einigkeit darüber bestehen, was mit dem Wort "Aussage" gemeint ist. Es erscheint mir nicht sinnvoll, alle Arten von Sätzen als "Aussagen" zu verstehen. Ich habe deshalb vorgeschlagen, unter "Aussagen" nur solche Sätze zu verstehen, die etwas darüber aussagen, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Der Kürze halber schlage ich vor, solche Sätze als "positive Aussagen" oder – wenn keine Missverständnisse entstehen können - auch einfach nur als "Aussagen" zu bezeichnen.

Weitgehende Einigkeit besteht wohl darüber, dass eine derartige Aussage dann wahr ist, wenn die Wirklichkeit so beschaffen ist, wie die Aussage besagt.

Einigkeit besteht wohl auch darin, dass eine Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann. Das impliziert, dass es nur eine Wirklichkeit geben kann, auf welche die Aussage entweder zutrifft oder nicht.

Damit stellt sich die weitere Frage, wie sich dies Zutreffen feststellen lässt. Dies ist die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit, also die Frage, wie man in geeigneter Weise für oder gegen die Wahrheit einer Aussage argumentieren kann.

Einig sind wir uns wohl auch darin, dass es bei der Frage nach der Wahrheit nicht um den Satz als eine bestimmte Wortfolge geht, sondern um den Satz mit einer bestimmten Bedeutung.

Die Frage nach der Wahrheit einer bestimmten Aussage bezieht sich also immer auf diese Aussage in einer bestimmten Sprache, durch welche die Bedeutung der einzelnen Wörter und damit die Bedeutung der Aussage festgelegt werden.  

Deshalb muss als Vorbedingung die Aussage von allen im gleichen Sinne verstanden werden, es muss die Sprache bekannt sein, in der die Aussage formuliert wurde.

Damit stellt sich die Frage, wer in dem vorangegangenen Satz mit "alle" gemeint ist. Ich habe die Position vertreten, dass man mit dem Wort "wahr" einen universalen (allgemeinen, intersubjektiven) Geltungsanspruch erhebt.

Wenn ich also den Satz: "Die Sonne beleuchtet am Tag die Erde",  als wahr behaupte, so erhebe ich damit einen Geltungsanspruch gegenüber jedem beliebigen Individuum, das diesen deutschen Satz versteht oder in dessen Sprache dieser Satz übersetzt werden kann.

Wenn jemand das Wort "wahr" nicht mit der Implikation eines allgemeinen Geltungsanspruchs verwenden wollte, sondern im Sinne von "wahr für den Adressatenkreis x" oder "wahr im Deutungszusammenhang y", dann müsste er wahrscheinlich am nächsten Tag ein neues Wort erfinden, um einen unbeschränkten Geltungsanspruch ausdrücken zu können.

Das Hantieren mit speziellen Wahrheiten für spezielle Deutungszusammenhänge oder Adressatenkreise und mit entsprechend spezialisierten Begründungen dieser speziellen Wahrheiten wird schnell den Wunsch nach einem Wort wachrufen, das allgemeine Gültigkeit impliziert.

Dass jede Frage und jeder Begriff eine menschliche Schöpfung und insofern "selektiv" ist, bestreite ich nicht, Ich sehe darin jedoch keinen Mangel sondern die sinnvolle Möglichkeit zur Konzentration auf das Wichtige – vorausgesetzt, es wird keine Frage, keine Aussage und kein Begriff von vornherein ausgeschlossen.

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 28. Okt. 2004, 12:17 Uhr

hallo eberhard,

Zitat:

Wenn jemand das Wort "wahr" nicht mit der Implikation eines allgemeinen Geltungsanspruchs verwenden wollte, sondern im Sinne von "wahr für den Adressatenkreis x" oder "wahr im Deutungszusammenhang y", dann müsste er wahrscheinlich am nächsten Tag ein neues Wort erfinden,


ein sehr guter punkt.

vielleicht ergänzend:
wenn wir einen satz haben wie "die sonne beleuchtet am tag die erde", so müssen wir uns darüber im klaren sein, dass in diesem satz sowohl "sonne" als auch "erde" starre bezeichnungsausdrücke sind. sie sind mit ihren jeweiligen referenten verknüpft. sie funktionieren wie namen, die man einmal vergeben hat. so behält der satz seine wahrheit.
würden wir z.b die sonne mit "das x, welches in der und der position ist" kennzeichnen, so wäre der ausdruck nur dann wahr, wenn die sonne "in der und der position ist", und in anderen fällen falsch - die position der sonne ist ja variabel.
denkbar ist auch, dass sich durch ein kosmisches ereignis, an der stelle, welche wir der sonne zugeweisen haben, sich ein anderes objekt befindet. das wäre dann aber nicht die sonne, sondern ein anderes objekt an der stelle der sonne.

der satz behält auch über sprachgrenzen hinweg seine wahrheit. es muss nur sichergestellt werden, dass der sprecher einer anderen sprache versteht, dass "sonne" und "erde" namen sind, die sich starr auf ihre referenten beziehen.

- mfg thomas

p.s.:
Zitat:

Wenn ich also den Satz: "Die Sonne beleuchtet am Tag die Erde",  als wahr behaupte, so erhebe ich damit einen Geltungsanspruch gegenüber jedem beliebigen Individuum, das diesen deutschen Satz versteht oder in dessen Sprache dieser Satz übersetzt werden kann.


ich würde -so meine vorläufige hypothese- weitergehen und sagen, dass der satz, wenn er in einer sprache wahr ist, in allen sprachen wahr sein muss. die einschränkung, die du machst
Zitat:

oder in dessen Sprache dieser Satz übersetzt werden kann.

ist meiner ansicht nach überflüssig, da es keine natürliche sprache gibt, die eine solche übersetzung nicht zuließe.

- II
- Hermeneuticus am 28. Okt. 2004, 12:20 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

die ursprüngliche behauptung von mir war ja die, dass es eine struktur der wirklichkeit gibt, die prinzipiell allen menschen offen steht und zumindest partiell erkannt werden kann.


Etwas, das "pinzipiell allen" offensteht - steht das WIRKLICH JEDEM (empirischen Individuum) offen? Vermutlich nicht. (" H2O" kann z. B. nicht faktisch von jedem erkannt werden, und nicht jeder hat einen praktischen oder kognitiven Zugang zu ihm.)

Wenn etwas nur "partiell" erkannt werden kann, das zwar "prinzipiell allen" (aber nicht faktisch jedem) offensteht... - wieso weiß "man" (konkret: wieso weißt DU), dass es diese "Struktur der Wirklichkeit" gibt? Wenn sie nur "partiell" erkannt werden kann, dann ist sie folglich auch partiell unerkennbar. Aber VORHANDEN wird sie ja wohl zur Gänze sein müssen - oder?


Zitat:

...aber die eigentliche behauptung, dass es eine struktur der wirklichkeit gibt, die erkennbar ist, zugestehst.


Nein, gestehe ich NICHT zu. Ich habe vielmehr gesagt, es sei eine plausible VORAUSSETZUNG (oder GLAUBE), dass es nur eine Wirklichkeit gebe. Außerdem habe ich gesagt, dass keine explizite Aussage über diese Wirklichkeit (z. B. dass sie NUR EINE sei) zu begründen wäre. Selbst, dass es sich um eine "Wirklichkeit" in genau dem Sinne handelt, in dem wir "Wirklichkeit" lebensweltlich, philosophisch, wissenschaftlich... verstehen, lässt sich nicht begründen.

Daher würde ich auch keine starken Thesen darauf gründen. Eine starke These ist z. B., dass unsere faktischen Interpretationen/Selektionen von der "Struktur der Wirklichkeit selbst begrenzt" werden. Oder: "Die Wirklichkeit spezifiziert sich selbst." (Auch bei Platon ist ja die "Pferdheit" kein Verstandeskonstrukt, sondern eine paradigmatische Entität hinter den wechselnden, nicht wirklich seienden Erscheinungen. Die "Ideen" oder "Wesenheiten" SIND die natürlichen Spezies...)

Zitat:

indem du die diskussion von "wasser" im chemischen sinne auf "wasser" im alltäglichen sinne ausgedehnt hast, versuchst du mir nachzuweisen, dass meine behauptung falsch ist.

Meine Behauptung ist: "Wasser" und "H2O" bezeichnen verschiedene Sachverhalte - das gibst Du zu - und referieren auch auf Unterschiedliches.
Die Voraussetzung meiner Behauptung liegt eben darin, dass ich "Gegenstände" als etwas durch eine reale menschliche Praxis und Theorie "Konstituiertes" verstehe. Die Rede von "H2O" gehört in einen anderen REALEN praktisch-theoretischen Kontext als die lebensweltliche Rede von "Wasser".

Dass sich der chemische Ausdruck "H2O" auch auf das lebensweltliche "Wasser" bezieht, dass die CHEMIE hier eine Äquivalenz behauptet, das ist mir schon klar. Trotzdem ist und bleibt, was wir "gewöhnlich" unter "Wasser" verstehen, gleichnamiges Element unseres lebensweltlichen Umgangs. Wasser ist in sehr vielerlei menschlichen Praxen zugänglich, und EINE dieser menschlichen Praxen ist die Wissenschaft der Chemie.

Wo ist hier ein "sophistischer Fehlschluss" ?

Zitat:

...weil du mir den eigentlichen punkt, dass es eine erkennbare struktur der wirklichkeit gibt, zugestanden hast.

Genau das, dass es EINE erkennbare Struktur DER Wirklichkeit geben soll, gestehe ich NICHT zu.

Du verstehst unter "Wirklichkeit" - das legen so manche Deiner Äußerungen nahe - primär einen Gegenstand der Theorie. Ich verstehe unter "Wirklichkeit" primär menschliche Praxis, Handeln, das gelingen oder scheitern kann. Theorie/Erkenntnis ist EINE unserer verschiedenen PRAXEN. Was die Praxis des Erkennens "inhaltlich" zutage fördert, bleibt darum stets rückgebunden an das menschliche Handeln.
Der Gegenstand "Wasser" ist Bestandteil von vielerlei menschlichen Praxen, deren Hauptzweck nicht im "Erkennen" dessen liegt, was Wasser "eigentlich ist". "H2O" ist Bestandteil der Praxis "Chemie", und hier besteht das Ziel schon eher im Erkennen; allerdings nicht nur: ebenso wichtig ist die technische Beherrschung durch Erzeugung beliebig reproduzierbarer "Reaktionen".

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 28. Okt. 2004, 13:02 Uhr

Hallo Eberhard!


Zitat:

Wenn jemand das Wort "wahr" nicht mit der Implikation eines allgemeinen Geltungsanspruchs verwenden wollte, sondern im Sinne von "wahr für den Adressatenkreis x" oder "wahr im Deutungszusammenhang y", dann müsste er wahrscheinlich am nächsten Tag ein neues Wort erfinden, um einen unbeschränkten Geltungsanspruch ausdrücken zu können.

"Allgemeiner Geltungsanspruch" ist eine bloße Idee, ein theoretisches Konstrukt, solange nicht angebbar ist (oder nicht einmal sein soll!), auf welche empirische Allgemeinheit von Sprechern sich dieser Anspruch erstreckt.

Wahr, darüber sind wir uns doch einig, sind Aussagen, deren Geltungsanspruch faktisch eingelöst ist. EINGELÖST IST, nicht "allgemein einlösbar" ist! Und faktisch eingelöst kann ein Geltungsanspruch nur für faktische Sprecher sein.

Mag ja sein, dass das Wort "wahr" einen "allgemeinen Anspruch" erhebt. Aber ein Anspruch auf etwas ist nicht dieses etwas selbst.

Außerdem wird der Anspruch einer Aussage auf Geltung nicht dadurch faktisch eingelöst, dass sie mit "allgemein konsensfähigen" Argumenten begründet wird - also durch ihre Form -, sondern durch den faktischen Konsens darüber, dass "es wirklich so ist", wie die Aussage behauptet.

Für mich ist das sonnenklar, weil Aussagen immer an empirische Sprecher gebunden sind. Und "Ansprüche" können auch nur von empirischen Personen erhoben und eingelöst werden, nicht von einer unbestimmten "Allgemeinheit". (Oder anders gesagt: Nicht "Aussagen" oder "Wörter" erheben Ansprüche, sondern Sprecher, die etwas sagen oder behaupten.)

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 28. Okt. 2004, 13:07 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich glaube, dass du es bist, der mich -evtl. uns- ein wenig an der nase herumführen will, indem du uns eine nach der andern kapriole vorführst.

Zitat:

" H2O" kann z. B. nicht faktisch von jedem erkannt werden, und nicht jeder hat einen praktischen oder kognitiven Zugang zu ihm.


was willst du mir damit sagen? dass es menschen gibt die das nicht können, so wie es farbenblinde gibt, die schwierigkeiten mit dem differenzieren von farben haben?
ich verstehe nicht, was du mir sagen möchtest.


Zitat:

wieso weiß "man" (konkret: wieso weißt DU), dass es diese "Struktur der Wirklichkeit" gibt?


weil ich täglich umgang mit der wirklichkeit habe. stell dir vor, irgendwo hat jemand eine mauer gebaut. wenn du nur fest genug dagegen läufst, holst du dir eine beule.


Zitat:

Wenn sie nur "partiell" erkannt werden kann, dann ist sie folglich auch partiell unerkennbar.


vermutlich, ja. ich kann bisher nur von dem teil sprechen, den wir erkannt haben. logisch gesehen ist zweierlei denkbar: a) die ganze struktur der wirklichkeit ist erkennbar => ist sie auch partiell erkennbar, und es ist falsch, dass sie partiell unerkennbar ist.
b) die ganze struktur der wirklichkeit ist nicht erkennbar => ist ein teil erkennbar, der andere nicht.

meine aussage ist in beiden fällen wahr, deine nicht.


Zitat:

Nein, gestehe ich NICHT zu.


dann laß' es bleiben!

wasser ist teil der wirklichkeit.
H2O ist die chemische struktur von wasser.
folglich gibt es einen teil der wirklichkeit (wasser), dessen (chemische) struktur wir erkannt haben.

Zitat:

Außerdem habe ich gesagt, dass keine explizite Aussage über diese Wirklichkeit (z. B. dass sie NUR EINE sei) zu begründen wäre.


ich rede von einer oder schlicht von der wirklichkeit zu der wir auch zugang haben. eine sinnvolle aussage, dass es sich um der zahl nach eine handelt, kann a) nicht getroffen werden und ist b) irrelevant, weil sich meine aussagen auf die uns gegebene wirklichkeit beziehen.

Zitat:

" Wasser" und "H2O" bezeichnen verschiedene Sachverhalte - das gibst Du zu - und referieren auch auf Unterschiedliches.


was ich zugegeben habe ist, dass chemiker von "wasser" sprechen, welches synonym ist zu "H2O".
und ich habe zugegeben, dass "wasser" im umgangssprachlichen gebrauch etwas anderes ist, als "wasser" im sinne der chemiker. für einen chemiker handelt es sich bei dem was wir umgangssprachlich als "wasser" bezeichnen um eine "lösung, die wasser enthält".

Zitat:

Die Rede von "H2O" gehört in einen anderen REALEN praktisch-theoretischen Kontext als die lebensweltliche Rede von "Wasser".

deshalb habe ich auch versucht den gebrauch, den der chemiker von "wasser" macht zu erklären.
und für den chemiker ist wasser nachwievor H2O.
und das, was wir "wasser" nennen enthält nachwievor H20.
wo ist das problem?

Zitat:

Wo ist hier ein "sophistischer Fehlschluss" ?


du gebrauchst "wasser" homonym, einmal als kennzeichnung des "chemiker-wassers" H2O und einmal als kennzeichnung einer chemischen lösung.

Zitat:

Genau das, dass es EINE erkennbare Struktur DER Wirklichkeit geben soll, gestehe ich NICHT zu.


auch diese äußerung legt einen sophistischen fehlSchluss nahe. es scheint, als benutzt du das wort "eine" in einem anderen sinne, um meine behauptung als falsch herauszustellen.
ich benutze "eine" in diesem falle nicht als zahlwort zur kennzeichnung "genau eine", sondern als unbestimmten artikel.

ich verstehe unter wirklichkeit, wie ich im anderen thread schon deutlich gemacht habe, die natur oder schlicht die welt in der wir leben. die erkenntnis der welt ist, trivialerweise, theoretisch.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 28. Okt. 2004, 16:40 Uhr

Hallo Thomas,

unter Zeitdruck nur kurz die Fragen:

Zitat:

...weil sich meine aussagen auf die uns gegebene wirklichkeit beziehen.

Wen meinst Du mit "uns" ?
Ist "uns" Wirklichkeit nicht auf recht unterschiedliche Weisen "gegeben" ?
Ist "Wirklichkeit" nur das "Gegebene" oder gehören auch unsere Handlungen dazu, durch die wir Wirklichkeit verändern?
Ist "Wirklichkeit" nicht zunächst das, was wir selbst sind und tun?
Und können wir erst in einem zweiten oder dritten, jedenfalls späteren Schritt die Wirklichkeit unserer selbst von der von uns jeweils nicht abhängigen Wirklichkeit unterscheiden?
Und ist genau DIESE Unterscheidung nicht UNSER Tun und hat sie nicht überhaupt nur für uns eine Bedeutung?

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 28. Okt. 2004, 18:09 Uhr

hallo hermeneuticus,

ganz entspannt, kann ich dir antwort auf deine fragen geben; obwohl ich nicht glaube, dass uns diese fragen in unserer diskussion weiterbringen.

Zitat:

Wen meinst Du mit "uns" ?

mit "uns" meine ich das, was man in der dritten person plural zu "ich" versteht. du, eberhard, ich etc. ich verwende es in seiner ganz gewöhnlichen form. ich hätte auch das englische "us" verwenden können.

Zitat:

Ist "uns" Wirklichkeit nicht auf recht unterschiedliche Weisen "gegeben" ?

nein, die wirklichkeit ist uns "gegeben" wie sie ist.

Zitat:

Ist "Wirklichkeit" nur das "Gegebene" oder gehören auch unsere Handlungen dazu, durch die wir Wirklichkeit verändern?

eine handlung ist nicht in dem sinne element der wirklichkeit, wie derjenige der die handlung ausführt.
im moment beantworte ich deine fragen. es erschiene mir falsch, zu sagen, "das beantworten an sich" sei ein element der wirklichkeit. richtiger: dass ich deine fragen beantworte ist element der wirklichkeit. dass ich es bin, der dies tut. und dass die antworten von mir geschieben worden sind. wir wollen den begriff "wirklichkeit" nicht überstrapazieren.

Zitat:

Ist "Wirklichkeit" nicht zunächst das, was wir selbst sind und tun?

wir sind nicht "wirklichkeit". wir sind wirklich, wenn du das meinst - im sinne von: wir sind nicht erträumt. und dementsprechend handeln wir (auch wirklich und nicht im traum). und ebenso ist unsere umwelt wirklich: unsere mitmenschen, die bäume, die sonne, der PC an dem ich sitze. all das ist wirklich. und in einem gewissen sinne ist uns die wirklichkeit gegeben, so wie ich dir ein buch aus meiner sammlung gebe; es ist dir dann gegeben. du hast es nicht selbst hervorgebracht, sondern es ist dir von mir als fertiges gegeben worden.

Zitat:

Und können wir erst in einem zweiten oder dritten, jedenfalls späteren Schritt die Wirklichkeit unserer selbst von der von uns jeweils nicht abhängigen Wirklichkeit unterscheiden?


diese frage verstehe ich nicht. was meinst du damit, in einem späteren schritt die wirklichkeit unserer selbst von der von uns jeweils nicht abhängigen wirklichkeit unterscheiden?
da sich

Zitat:

Und ist genau DIESE Unterscheidung nicht UNSER Tun und hat sie nicht überhaupt nur für uns eine Bedeutung?

anschließt, weiß ich hierzu nicht, was du meinst. vielleicht erklärst du es zu einem zeitpunkt, zu welchem du mehr zeit hast.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 29. Okt. 2004, 06:23 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Ich bestreite nicht, dass der in der Chemie benutzte Begriff "Wasser" (synonym mit "H2O" : eine chemische Verbindung bestehend aus 2 Wasserstoff- und 1 Sauerstoffatom) nur eine von vielen Bedeutungen des Wortes "Wasser" ist. Die deutsche Sprache enthält vom "Abwasser" bis zum "Weihwasser" Dutzende von Wörtern, die spezielle Arten von Wasser bezeichnen, wobei die Bedeutung dieser Wörter unterschiedlich präzise ist.

Der Begriff "Wasser" in der  Chemie zeichnet sich allerdings durch eine besonders präzise Bedeutung aus. Zwei Chemiker stimmen deshalb so gut wie immer darin überein, ob sie ein bestimmtes Molekül als "Wassermolekül" bezeichnen oder nicht, während zwei Hotelbesitzer häufiger unterschiedlicher Meinung sind, ob sie eine bestimmte Flüssigkeit als "Trinkwasser" bezeichnen oder nicht.

Ich bestreite nicht, dass die Herstellung von chemisch reinem Wasser z. B. durch Destillation keine einfache Aufgabe ist und man dazu spezielle Laborausrüstungen benötigt.

Ich bestreite nicht, dass für die meisten Menschen Fragen nach dem Kaffeewasser oder Badewasser häufiger und dringlicher sind als Fragen nach der chemischen Verbindung Wasser und deren Eigenschaften.

Ich bestreite nicht, dass im Alltag andere Formen der Begründung oder Widerlegung von Aussagen über Wasser und Wasserarten praktiziert werden als in der experimentellen Chemie (z. B. die Prüfung der Temperatur des Badewassers durch Eintauchen eines Fingers statt einer Messung mit dem Thermometer).

Ich bestreite nicht, dass die Kenntnisse der Chemie oder Physik über die chemische Verbindung Wasser derart umfangreich und kompliziert sind, dass es zu ihrer Aneignung eines speziellen Studiums bedarf.

Ich bestreite nicht, dass die Chemie und Physik bestimmte Fragen (Fragen nach Sinn, Wert, Schönheit, Pflicht) nicht stellen und uns somit nicht alle Antworten geben können.

Aber ich sehe nicht, weshalb es deswegen nicht möglich sein soll, Fragen nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit mit Geltung für alle, die diese Fragen verstehen, zu beantworten.  

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 29. Okt. 2004, 16:38 Uhr

hallo namenlos,

ich denke nicht, dass es überhaupt nötig ist, wahrheit und wirklichkeit als solche näher zu bestimmen. wir haben eine vorstellung von dem was wirklich ist, denn wir lernen unsere sprache anhand der wirklichkeit. wir benennen dinge, gegenstände, personen, orte, farben etc. und wahrheit im einfachsten falle ist nichts anderes als den übereinstimmenden gebrauch von benennungen. wenn kinder lernen dinge zu benennen, so werden wir jedesmal, wenn sie die dinge beim gleichen namen nennen wie wir, zustimmend nicken. das benennen ist zwar nicht die einzige funktion der sprache, aber eine wesentliche. und zumeist die erste, die man lernt.

in unserer sprache gibt es aber nicht nur worte, die namen sind, sondern auch worte, die wie namen funktionieren. wenn wir zum beispiel vom weihnachtsmann reden oder von einhörnern, so reden wir von dingen mit denen wir im eigentlichen sinne keinen kontakt haben können. dennoch funktionieren diese worte wie namen. auf die frage hin, was der weihnachtsmann sei, können wir ebensogut, wie zu jedem anderen wort eine erklärung -oder besser beschreibung- abgeben. wir können über weihnachtsmänner ebensogut wie über alltagsgegenstände reden. mit dem unterschied, dass z. B. das wort "zange" einen gegenstand (referent) benennt, "weihnachtsmann" benennt keinen gegenstand. wir können den sinn des wortes "weihnachtsmann" angeben, aber nicht seine bedeutung, seine extension. die menge der weihnachtsmänner dürfte wohl eine leere menge sein.
wirklichkeit ist in dem sinne dann die welt auf die wir uns beim sprechen beziehen. wenn wir von einer zange reden, so meinen wir einen bestimmten gegenstand in dieser welt.  wenn wir vom weihnachtsmann reden besitzen wir lediglich eine beschreibung, ähnlich wie bei dem wort "zange", aber das wort "weihnachtsmann" benennt keinen gegenstand unserer wirklichkeit.

sätze sind wahr, wenn sie uns zu zustimmung verpflichten. wenn ein kind zum beispiel den gebrauch des wortes "zange" lernt, und sagt "das ist eine zange", und dabei eine zange in der hand hält, werden wir beipflichten, und sagen "ja, das ist eine zange" - bzw. "ja, das nennt man eine zange". oder in einem anderen fall, wenn ein kind davon berichtet, der weihnachtsmann habe einen langen, weißen bart, rote kleidung und eine zipfelmütze auf, so werden wir auch hier sagen, das sei wahr - im sinne von, das kind gibt eine richtige beschreibung der charakteristika des weihnachtsmannes. wenn ich sage, quito ist die hauptstadt von ecuador, so ist dieser satz wahr, weil quito die hauptstadt von ecuador ist. und mir würden auch alle zustimmen, das dem so ist.

gesetzt den fall, in quito hat es über nacht eine revolution gegeben, so ist der satz, dass quito die hauptstadt von ecuador ist, falsch, obwohl mir vielleicht eine vielzahl von menschen zustimmen würde. aber wenn ich meinen freund in quito anrufe, würde er mich davon in kenntnis setzen, dass guayaquil über nacht zur hauptstadt geworden ist.

in dem fall werde ich meine aussage revidieren müssen. ich werde sagen, dass bis gestern noch guayaquil noch nicht hauptstadt war, es nun aber ist. und quito ist nicht länger mehr hauptstadt. ich werde meinen fehler so beschreiben, dass ich sage, ich dachte, quito wäre auch heute noch hauptstadt von ecuador.

eine besondere art, von wahren sätzen sind die sätze der naturwissenschaften. zum beispiel, dass wasser H2O ist. wir können viele verschiedene eigenschaften des wassers aufzählen. wir können sagen, dass wasser in flüssen fließt, dass wasser zum teekochen verwandt wird, dass wasser naß ist etc. all das ist zutreffend. was jedoch die beschreibung dessen, was wir als typische eigenschaften des wassers bezeichnen und die benennung von wasser als H2O unterscheidet, ist, dass es denkbar wäre, dass in unseren flüssen kein wasser mehr fließt, sondern stattdessen "narrenwasser" (etwas das gleich aussieht, sich ähnlich anfühlt, was dennoch aber kein H2O enthält). unsere beschreibung, "das, was im fluß fließt, ist wasser", wäre in dem moment allerdings falsch, denn das, was im fluß fließt, wäre kein wasser, sondern narrenwasser. wir würden eine falsche beschreibung dessen geben, was sich im fluß befindet. die festlegung der bezeichnung "wasser" als starren bezeichnungsausdruck für "H2O", dem charakteristikum für wasser, verhindert eine verwechslung von wasser mit narrenwasser. überall, wo sich wasser befindet, in dieser oder in jeder denkbar möglichen welt, muss es sich um H2O handeln, sonst ist es nicht das, was wir wasser nennen. also ist der satz "das ist wasser", nur dann wahr, wenn es sich um H2O handelt. H2O ist ein charakteristikum von wasser, das als solches sprecherungebunden ist. es ist, wenn man so will, die eigenschaft des wassers H2O zu sein, und nicht H2SO4.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 30. Okt. 2004, 03:07 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

was meinst du damit, in einem späteren schritt die wirklichkeit unserer selbst von der von uns jeweils nicht abhängigen wirklichkeit unterscheiden?


Wenn wir von "der Natur" sprechen, meinen wir damit meist einen Bereich der Wirklichkeit, der unabhängig von unserem Handeln und Einwirken "gegeben" ist. "Natur" ist ein Gegenbegriff zu "Technik" oder "Kultur". Es ist der Bereich der Wirklichkeit, den wir nicht gemacht haben, den wir auch dann zunächst einmal so hinnehmen, "wie er ist", wenn wir durch unser Handeln gezielt in ihn eingreifen wollen.

Aber es ist doch unschwer zu sehen, dass die Unterscheidung jenes Teils der Wirklichkeit, der unabhängig von unserem Handeln "gegeben" ist, und dem Teil der Wirklichkeit, der wir selbst sind bzw. den wir durch unser Handeln dauernd verändern, in unsere menschliche Wirklichkeit fällt. Naturwissenschaftliche Forschung ist ein zielgerichtetes, menschliches Handeln.

Damit wir also überhaupt von der Wirklichkeit sprechen können, "wie sie ist", müssen wir zuvor schon gehandelt haben - mit dem Ziel, genau das herauszufinden. "Die Natur" oder "Wirklichkeit" als Gegenstand von beschreibenden Aussagen - also als Gegenstand der Theorie - ist von uns selbst hervorgebracht. Aus diesem Grund würde ein Satz wie "Die Wirklichkeit ist das Gegebene" nur die halbe Wahrheit sagen, weil er unsere Erkenntnisleistungen (= Handlungen, Hervorbringungen) von der Wirklichkeit ausnähme. Die "objektive" Wirklichkeit und ihre Struktur ist vielmehr das, was sich als Resultat unserer Erkenntnisleistungen zeigt. Und sie "zeigt sich" eben auch immer nur in dem so und so begrenzten Feld unserer Beobachtungen, Experimente oder alltäglichen Handlungen.

Anders gesagt: Es hängt von unserem Handeln ab, wie und als was die "objektive Wirklichkeit" sich zeigt. Darum ist es auch sinnvoll zu sagen, Wirklichkeit sei uns "auf verschiedene Weisen gegeben". Betätige ich mich als Chemiker oder Physiker, stoße ich auf eine anders strukturierte Wirklichkeit als im lebensweltlichen Handeln. Das liegt z.B auch an den Zwecken, die ich dabei verfolge.
So kann, um noch einmal Eberhards Beispiel der Abriander und Obriander aufzugreifen, eine "objektive" Klassifikation der Tierarten sehr verschieden ausfallen, je nachdem, welche Zwecke sie erfüllt. Was somit ALS eine "natürliche Struktur" gesehen wird, kann je nach den Interessen der Beteiligten unterschiedlich ausfallen.

DIES AUS ERFAHRUNG WISSEND, tut man gut daran, bei Aussagen über die "Wirklichkeit, wie sie ist", die jeweilige Interessenlage und Standortgebundenheit in Rechnung zu stellen. Denn sie gehen ja in die Voraussetzungen ein, die deskriptive Aussagen in Anspruch nehmen und im Hinblick auf die sie erst auf ihren Wahrheitswert geprüft werden können.


Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 30. Okt. 2004, 10:28 Uhr

hallo hermeneuticus,

schön, dass du nun ein wenig mehr zeit gefunden hast, und eine ausführlichere antwort geben konntest.

wir können uns, denke ich, über den gebrauch des wortes "natur" sicherlich einigen. wenn ich von "natur" spreche, so habe ich nicht die unterscheidung natur-kultur im hinterkopf; zumindest wirkt sich diese unterscheidung nicht wesentlich auf das aus, was ich damit aussagen möchte. wenn ich von struktur der natur oder der wirklichkeit spreche, so meine ich, wie du ja auch richtig herausgestellt hast, den teil der wirklichkeit, der nicht unserem einfluß unterliegt. wenn wir sagen, dass jemandes haarfarbe von natur aus braun sei, so meinen wir, dass er diese haarfarbe von geburt an besessen hat; und wenn er z. B. nicht beim frisör war, und die haare färben ließ. wird er diese haarfarbe vermutlich auch eine zeitlang tragen.
aber das ist -glaube ich nicht- der punkt, um welchen sich unsere diskussion dreht. der punkt ist ein anderer.

du schreibst,
Zitat:

" Die Natur" oder "Wirklichkeit" als Gegenstand von beschreibenden Aussagen - also als Gegenstand der Theorie - ist von uns selbst hervorgebracht.

. das ist sachlich falsch. wenn wir als physiker das kontinuum der farben untersuchen, so ist es falsch zu sagen, der physiker brächte das lichtspektrum hervor - es sei denn, du meinst damit, der physiker bricht z. B. das sonnenlicht in einem prisma; das resultierende farbspektrum hat er in dem sinne hervorgebracht, als er das prisma zu versuchszwecken aufgestellt hat. dass sich die farben aber in der und der art aufteilen ist primär nicht vom physiker verursacht, sondern ist auf eigenschaften des lichts und die materialen eigenschaften des prismas zurückzuführen.
oder nehmen wir zum beispiel die astrophysik. ich denke, dass wir ein eingreifendes handeln -worauf du dich implizit beziehst- in der astrophysik weitgehend ausschließen können. der satz "galaxien haben den und den drehimpuls" ist die (physikalische) beschreibung einer tatsache. man könnte auch schlicht sagen, galaxien drehen sich so und so. dass die galaxien sich drehen, ist nicht vom astrophyisker verursacht. ich denke, dass wir uns in diesem punkt einig sein dürften.
galaxien als solche sind auch nicht erst als gegenstände von der astrophysik hervorgebracht worden. galaxien gab es, bevor es astrophysik gegeben hat. und wird es wohl auch noch geben, nachdem es keinen astrophysiker mehr gibt.
in einem gewissen sinne magst du recht haben; galaxien sind als forschungs[/i]gegenstand[/i] erst ab einem gewissen zeitpunkt in der menschlichen geschichte relevant geworden. ich denke, dass wir uns einig sind, wenn ich sage, dass z. B. die neanderthaler keine nennenswerten fortschritte in der astrophysik erzieltz haben - und das, obwohl es zu ihrer zeit auch galaxien gegeben hat.


Zitat:

Es hängt von unserem Handeln ab, wie und als was die "objektive Wirklichkeit" sich zeigt.


das hat ja auch niemand bestritten. ich habe schon mehrfach weiter oben betont, dass sich die wirklichkeit in meinen handlungen offenbart. ob wir nun herausgefunden haben, dass licht mit der und der farbe, eine elektromagnetische welle mit der und der länge ist, oder dass sich galaxien drehen; diese entdeckungen können wir erst machen, indem wir experimente und beobachtungen machen. dass wir diese experimente und beobachtungen machen können liegt daran, dass die wirklichkeit prinzipiell allen offen steht. darin besteht nun einmal wirklichkeit; von einer absolut verborgenen wirklichkeit zu sprechen wäre ein widerspruch in sich - wäre eine aussage wider besseres wissen.

Zitat:

Und sie [die wirklichkeit] 'zeigt sich' eben auch immer nur in dem so und so begrenzten Feld unserer Beobachtungen, Experimente oder alltäglichen Handlungen.

.
da stimme ich dir zu. es gibt natürliche grenzen des erkennens. zum beispiel ist eine natürliche grenze des erkennens die maximal erreichbare auflösbarkeit der wirklichkeit. wir können zum beispiel mit unseren augen die wirklichkeit nicht unendlich auflösen. dazu benötigen wir ein mikroskop. und auch mikroskope haben ihre grenzen.
dementsprechend sage ich ja auch, dass die wirklichkeit zumindest zum teil erkennbar ist. was den anderen teil anbelangt, kann man keine sinnvolle aussage treffen.

was mich noch interessiert ist, was du mit
Zitat:

unsere Erkenntnisleistungen

meinst.
was für eine "leistung" ist denn unsere erkenntnis?

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 30. Okt. 2004, 11:15 Uhr

Hallo an alle, hallo Thomas,

als ich ein Junge von 8 Jahren war, dachte ich, dass alle Flüssigkeiten Wasser enthalten und dass alle gasförmigen Stoffe Luft enthalten. Ich habe dann immer gestaunt, wenn aus dem kochenden Wasser "Luftblasen" aufstiegen. Als ich meinen Vater fragte, woher die Luftblasen in dem Topf kommen, war ich sehr verwundert, als er mir sagte, dass es keine Luft sondern Wasserdampf sei, der dort aufsteige. "Aber Dampf ist doch weiß und diese Blasen sind durchsichtig," entgegnete ich, wobei ich an die Wolken dachte, von denen es hieß, dass sie aus Wasserdampf bestehen.

Dass ein völlig durchsichtiges Gas und ein harter Eiszapfen als "Wasser" bezeichnet wurde, ging quer zu meiner "Mutter-Sprache", die Dinge wurden umbenannt. Was für die einfache Anschauung völlig verschiedenartige Dinge sind, ein unsichtbares Gas, eine durchsichtige Flüssigkeit und ein harter weißlicher Brocken war in der Sprache der Chemie ein und derselbe Stoff, H20, genannt "Wasser", nur in verschiedenen Aggregatzuständen.

Allerdings habe ich später gelernt, die beiden Begriffssysteme ineinander zu übersetzen: "Wasser" im umgangssprachlichen Sinne war in der Sprache der Chemie "H20 in flüssigem Aggregatzustand (in mehr oder weniger reiner Form)".

Da sich die Umgangsprache langsamer wandelt als die Erkenntnisse der Wissenschaften haben die Wissenschaften sich ihre eigenen Fachterminologien geschaffen. Daneben besteht die  Umgangssprache fort und sie hat ihre Berechtigung, solange sie die erfolgreiche Verständigung im Alltag erlaubt.

Ich habe es deshalb auch immer als Schlaumeierei empfunden, wenn mich Jurastudenten darüber belehren wollten, dass Herr X nicht der Besitzer der Wohnung sei, die ihm gehörte. Der Besitzer sei Herr Y, der Mieter der Wohnung. Herr X sei dagegen der Eigentümer.

Wenn mir ein kleines Kind ein Bild zeigt und sagt: "Guck mal hier, der große Walfisch, der ist größer als das Boot!", dann werde ich nicht berichtigen: "Falsch. Ein Wal ist kein Fisch."

Nehmen wir ein anderes Beispiel für Sprachprobleme, die Namen für die Jahreszeiten. Wie gebrauchen wir das Wort "Winter" ? Herr A sagt: "Als 'Winter' werden die Monate Dezember, Januar und Februar bezeichnet." Herr B sagt: "Das stimmt nicht. In Australien wird das Weihnachtsfest im Dezember gefeiert, so wie bei uns, aber dann ist dort kein Winter."

Oder nehmen wir das Wort "früher". Stimmt es, wenn Herr A sagt: "Wenn die Uhren von Sommerzeit wieder auf Normalzeit umgestellt werden, wird es abends früher dunkel" ? Herr B sagt: "Das stimmt nicht. Es wurde keine Sekunde früher dunkel. Die Stellung der Erde zur Sonne hat sich überhaupt nicht geändert. Man kann höchstens sagen, dass es in Berlin immer ca. eine Stunde früher dunkel wird als in London."

Was diese Beispiele zeigen sollen ist, dass es verschiedene mögliche Sprachen gibt mit Unterschieden im begrifflichen Aufbau und in der Weise, die Dinge zu ordnen. Es gibt nicht DIE  richtige Sprache. Die Benennung der Dinge, die Bezeichnung des Bezeichneten ist soziale Konvention.

Ist nun in der Chemie der Satz: "Wasser ist H20" ein Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit?

Es ist zwar ein naturwissenschaftlicher Satz, aber es ist kein Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit sondern ein Satz, der in der Chemie die Bedeutung des Wortes "Wasser" festlegt. Der Satz sagt etwas über "Wasser" aus, nicht jedoch über Wasser.

Wenn es sich um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handeln soll, dann müsste es eine von diesem Satz unabhängige Definition des Wortes "Wasser" geben, in der die Formel H20 nicht vorkommt.

Wenn dies nicht der Fall ist, handelt es sich um eine Definition, eine Konvention über den Gebrauch eines bestimmten Wortes.

Um dies deutlich zu machen, wäre es angebracht gewesen, zu schreiben: " 'Wasser' bedeutet H20."

Derartige Sätze können nicht empirisch wahr oder falsch sein, sie können nicht durch Erfahrung widerlegt werden.  

Nur innerhalb dieses Sprachgebrauchs gilt, das Thomas schreibt: " also ist der Satz" Das ist Wasser" nur dann wahr, wenn es sich um h2o handelt".

Ich würde im Unterschied zu Thomas "H20" als Definiens von "Wasser" bezeichnen und nicht als Eigenschaft von "Wasser", um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Grüße an alle, denen es auf Klarheit im Denken und Sprechen ankommt, von Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 30. Okt. 2004, 15:03 Uhr

Hallo Eberhard!

Deine Ausführungen im letzten Beitrag sind - wie oft - von bestechender Klarheit, und ich kann ihnen nur zustimmen. (Nicht, dass ich so leicht zu bestechen wäre... :-) )

Zitat:

Was diese Beispiele zeigen sollen ist, dass es verschiedene mögliche Sprachen gibt mit Unterschieden im begrifflichen Aufbau und in der Weise, die Dinge zu ordnen. Es gibt nicht DIE  richtige Sprache. Die Benennung der Dinge, die Bezeichnung des Bezeichneten ist soziale Konvention.

Ja. Der Hinweis auf die "soziale Konvention" deutet aber schon an, dass es sich bei der "Benennung der Dinge" oder dem begrifflichen Aufbau, der "Ordnung der Dinge" nicht um einen rein sprachlichen Vorgang handelt. Versteht man "Konvention" buchstäblich als willentliche "Übereinkunft", könnte die unzutreffende Ansicht entstehen, als hätten wir bei der Bezeichnung und Einteilung der Dinge freie Hand, alles sei nur eine Frage der zweckmäßigen Wortwahl und Definition. In den Wissenschaften ist das schon eher so, aber das kennzeichnet m.E. ihre Sonderstellung gegenüber der Lebenswelt. Denn die Sprache, die wir sonst sprechen, hat sich niemand willkürlich ausgedacht, um sie dann dem Kollektiv der Sprecher vorzulegen und durch ein "Referendum" absegnen zu lassen...

Sprechen ist selbst ein Handeln, das immer auch in nichtsprachliche Handlungen eingebettet bleibt. Eine Sprache zu "haben", bedeutet immer zugleich, in einen ganzen Handlungszusammenhang eingebunden zu sein, Teil einer Sprachgemeinschaft zu sein mit den für diese Gemeinschaft geltenden Normen, Zielen, Gewohnheiten, Praxen, Überzeugungen... und eben auch einer bestimmten (sprachlichen) "Ordnung der Dinge". Die "Ordnung der Dinge" ist also weit mehr als nur das semantische Gefüge einer Sprache.
Und das rechtfertigt es m.E., von einer "Interpretationswelt" zu sprechen, die von den Sprechern einer Sprache jeweils geteilt wird. "Interpretation" oder "Deutung" lässt sich freilich ebenso "konventionalistisch" missverstehen wie "Konvention" - so, als säßen die "Interpreten" vor einem Text und machten verschiedene "Interpretationsvorschläge". Vielmehr will ich ja mit dem Ausdruck "Welt" verdeutlichen, dass die praktisch-sprachliche "Ordnung der Dinge" dem bloßen Belieben oder expliziten Zweckmäßigkeitsabwägungen ENTZOGEN bleibt. Eine Sprache ist unmittelbar PRAKTISCH VERBINDLICH, d. h. ihre Verbindlichkeit geht nicht auf willentliche Zustimmungsakte der Sprecher zurück, etwa einen "Gesellschaftsvertrag" darüber, wie hier gesprochen und die Welt eingeteilt werden soll... Die Legitmität der sog. "natürlichen" Sprachen - die so heißen, weil eben niemand sie "künstlich", willkürlich "gemacht" hat - beruht auf dem faktischen Gelingen des Sprachgebrauchs. Und ihre Weiterentwicklung - denn Sprachen verändern sich ja ständig - kommt nicht (oder nur ganz peripher) durch gemeinsame Beschlüsse über den Wortgebrauch zustande.

Die erkenntnistheoretische Orientierung an der (sprachlichen) Praxis der Wissenschaften tendiert dazu, den buchstäblich "konventionellen" Anteil am Sprachgebrauch zu überschätzen. Deshalb ist es wohl korrekter, von der "Arbitrarität" der ZEICHEN zu sprechen, weil ja vor allem der Umstand gemeint ist, dass es keine "natürliche" oder gar invariante Beziehung zwischen Begriffen und Dingen gibt. Aber so wenig wie wir die Wirklichkeit nach Gutdünken gestalten können, so wenig basieren der faktische Sprachgebrauch und die davon abhängenden Wortbedeutungen auf expliziten Willenserklärungen.

Auch in den Wissenschaften, wo mit definierten Begriffen "gearbeitet" wird, wo der Sprachgebrauch normiert ist und die "Ordnung der Dinge" in Form von expliziten Hypothesen zur Diskussion steht, darf man den Anteil der nichtsprachlichen Praxis und des "überkommenen" Sprachgebrauchs nicht unterschätzen. Die Angehörigen einer Wissenschaft bilden ebenso eine "Sprachgemeinschaft" mit einer dazu gehörenden "Welt", in der sich vieles "von selbst vesteht", in der es geteilte Gewohnheiten und Normen gibt, die nicht immerzu zur Disposition stehen. Also auch hier sollte man den Anteil der Legitimation durch Gewohnheit und Gelingen nicht unterschätzen.

Gruß
H.

PS. Thomas antworte ich noch gesondert.

- II
- Hermeneuticus am 30. Okt. 2004, 18:21 Uhr

Hallo Eberhard!

Anknüpfend an meine Überlegungen im letzten Beitrag, möchte ich verdeutlichen, was ich mit der Redeweise meinte, eine Behauptung sei stets wahr oder unwahr nur "für" eine Gruppe von Sprechern. Du hattest ja diese Redeweise kritisiert und mit dem "allgemeinen Geltungsanspruch" gekontert, der mit der Verwendung des Prädikats "wahr" erhoben werde.

Ich gebe Dir insoweit Recht, als eine wahre Aussage keine bloße Ansicht oder Meinung ist. Und eine Aussage, die "für" einen bestimmten Adressatenkreis wahr ist, unterscheidet sich auch von dem Resultat einer Meinungsumfrage, die ergibt, dass der und der Teil der Befragten diese Aussage "für wahr hält".

Das Prädikat "wahr" ist mit der Assoziation des Unumstößlichen verbunden. Was wahr ist, ist gerade dem bloßen Meinen oder Dafürhalten entzogen. Man kann es nicht mehr so oder auch anders sehen. Das Meinen, so könnte man vielleicht sagen, sei dagegen eine Mitteilung über den momentanen, aber vorläufigen Reflexionsstand des Sprechers. Genau diese "subjektive" Vorläufigkeit, dieses Hin und Her der Reflexion, die heute so und morgen wieder anders urteilt, ist bei wahren Aussagen zum Abschluss gekommen. Wahre Aussagen kann man "abhaken", um sich etwas anderem zuzuwenden.

Das gilt aber auch für Aussagen, die niemand nachprüfen kann, wie z. B. "Ich habe Kopfschmerzen". Wenn ich das sage, MEINE ich es nicht, oder nehme ich es nicht bloß an, GLAUBE ich nicht, dass meine momentanen Empfindungen möglicherweise dasselbe seien, was man gewöhnlich so "Kopfschmerzen" nennt. Sondern ich sage, was der Fall ist.
Diese Aussage kann in manchen Situationen von anderen angezweifelt werden, z. B. wenn ich gerade mit meiner verdächtig kuschelwütigen Freundin im Bett liege und den Satz mit "Liebling" einleite... :-) oder wenn ich mich an einem strahlenden Sommernachmittag damit am Arbeitsplatz entschuldigen möchte... Aber in solchen Fällen HABE ich ja auch nicht wirklich Kopfschmerzen, sondern schütze sie nur vor.

Jedenfalls: Wenn ich sagte, wahre Aussagen seien stets nur "für" einen bestimmten Adressatenkreis wahr, meinte ich damit nicht, dass diese Adressaten ihr "persönliches Fürwahrhalten" im Blick auf einen anderen Personenkreis relativierten: "WIR halten das zwar für wahr, aber bei den Obriandern hinter den sieben Bergen mag man es anders sehen...." Sondern FÜR diesen Adressatenkreis SELBST gilt eine Wahrheit unumstößlich (jedenfalls solange, bis irgendwelche Ereignisse sie faktisch umstoßen, was, wie wir Reflektierende wissen, eines Tages geschehen kann.)

Für einen unbeteiligten Beobachter, der sowohl die Abriander als auch die Obriander kennt, mag die Aussage, die bei den Abriandern unumstößlich wahr ist, nur ein Fürwahrhalten sein - denn er teilt nicht ihre Voraussetzungen, nicht ihre verbindliche praktisch-semantische "Ordnung der Dinge". Er ist darum in der Lage, die begrenzte Geltung ihrer Klassifikationen zu erkennen. Allerdings wird er, wenn er konsequent weiter reflektiert, sich eingestehen, dass er selbst einer anderen Sprachgemeinschaft mit einer anderen verbindlichen Ordnung der Dinge angehört, die ein unbeteiligter Beobachter in ihrer Relativität durchschauen könnte.

Wenn Du, Eberhard sagst: "Es gibt nicht DIE richtige Sprache und Einteilung der Dinge", dann nimmst Du den Standpunkt eines unbeteiligten, reflektierenden Beobachters ein, der aus der Erfahrung weiß, dass man die Dinge in verschiedenen Sprachwelten jeweils anders sieht. Wenn Du dagegen sagst: "Diese Aussage ist wahr", dann hast Du eine bestimmte Ordnung der Dinge als gültig vorausgesetzt. Du ÜBERNIMMST ihre verbindliche Geltung, u.d. h. Du bist HIER ein BETEILIGTER. Hier stößt Dein Reflektieren an die Grenze Deiner Weltsicht. Oder mit Wittgenstein gesagt: Hier ist der Fels, an dem sich der Spaten umbiegt...

Das einschränkende "wahr FÜR xyz" kann nur aus einer gerade jetzt unbeteiligten Beobachterperspektive prädiziert werden. Und auch nur dann, wenn man die in Frage stehende Aussage zusammen mit ihren Voraussetzungen - der von den Adressaten geteilten Ordnung der Dinge - überblickt und relativeren kann. Wenn man also z. B. in der Lage ist, "Fische" und "Säugetiere" auf verschiedene Weise klassifizieren und dabei die Vor- und Nachteile jeder Klassifikation gegeneinander abwägen zu können. Aber solches Abwägen und Reflektieren stößt irgendwo an seine Grenzen - Grenzen, über die der Reflektierende selbst NICHT MEHR FREI VERFÜGT.

Wenn man nun die Reflexionsschraube eine Umdrehung weiter anzieht, muss man den scheinbar paradoxen Sachverhalt zugestehen, dass genau in dem Moment, wo eine Aussage unumstößlich wahr, allgemein gültig ist, sich MIT dieser Unumstößlichkeit auch die BEGRENZTHEIT des eigenen Horizontes manifestiert. Gerade dann, wenn etwas ohne hinzugedachte Einschränkung wahr ist, wirkt sich eine Einschränkung aus, die wir in diesem Moment nicht erkennen und über die wir nicht mehr verfügen.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 30. Okt. 2004, 18:59 Uhr

hallo eberhardt,

du gibst wie immer eine sehr gute darstellung und erläuterung zur diskussion. es ist immer erfrischend, etwas von dir zu lesen. im grunde bin ich mit dem einverstanden, was du geschrieben hast. allerdings reibe ich mich noch an dem, was du über den "aufbau" der wirklichkeit gesagt hast.


Zitat:

Es ist zwar ein naturwissenschaftlicher Satz, aber es ist kein Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit sondern ein Satz, der in der Chemie die Bedeutung des Wortes "Wasser" festlegt. Der Satz sagt etwas über "Wasser" aus, nicht jedoch über Wasser.


ich stimme dir zu, in dem was du sagst. wie ich auch schon versucht habe deutlich zu machen, handelt es sich bei der bezeichnung H2O um einen starren bezeichnungsausdruck. die bedeutung von wasser wird -im sprachgebrauch der chemiker- auf H2O festgelegt; wenn ein chemiker von H2O spricht, so spricht er sozusagen in einem atemzug von wasser.
oder wie du gesagt hast,
Zitat:

handelt es sich um eine Definition, eine Konvention über den Gebrauch eines bestimmten Wortes.

allerdings bin ich nicht einverstanden, dass der satz "H2O ist wasser" kein satz über den aufbau der wirklichkeit ist. und zwar aus einem simplen, erkenntnistheoretischen grund nicht.
wenn wir -ohne wissen des chemikers- uns darüber unterhalten, was denn nun wasser sei, werden wir wasser durch seine verschiedensten eigenschaften und gebrauchsformen charakterisieren. wir werden sagen, dass wasser -ich gehe mal vom standardfall aus- flüssig ist, sich naß anfühlt, durch flüsse fließt etc. dementsprechend werden wir diejenige flüssigkeit, die durch flüsse fließt auch wasser nennen.
für erkenntnistheoretisch relevant ist in diesem falle allerdings nicht die eigenschaft des wassers, durch flüsse zu fließen. nicht dasjenige, was durch flüsse fließt ist zwangsweise wasser -ich habe auf "narrenwasser" verwiesen (etwas, das viele eigenschaften des wassers auch besitzt, bis auf die tatsache, dass es H2O ist).
nur wasser ist berechtigterweise wasser zu nennen.
nun kommt die chemische analyse hinzu.

wenn wir uns zum beispiel über den aufbau des tisches unterhalten, so meinen wir damit, woraus dieser tisch gemacht ist, aus welchem material; oder wir fragen nach der konstruktion und der bearbeitung des tisches; evtl. ist bei besonderen kunsthandwerklichen tischen noch relevant wer ihn mit welchen mitteln so hergerichtet hat. das alles sind fragen nach dem aufbau des tisches. wenn wir nach dem aufbau und der struktur der wirklichkeit schlechthin fragen, so werden wir sagen, dass es keinen homogenen grundstoff gibt, weil die verschiedenen dinge aus verschiedenen stoffen zusammengesetzt sind. wir können uns aber den teilaspekten widmen. zum beispiel können wir uns fragen, wie ist wasser -ein teilaspekt unserer wirklichkeit- zusammengesetzt. woraus besteht wasser?

dass wasser H2O ist, ist nicht zwingend notwendig. es hätte sich auch anders herausstellen können. so wie es auch anders hätte sein können, dass licht keine elektromagnetische welle ist. dass wasser H2O ist, ist eine kontingente tatsache - es hätte auch anders sein können.
deshalb ist deine aussage
Zitat:

Wenn es sich um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handeln soll, dann müsste es eine von diesem Satz unabhängige Definition des Wortes "Wasser" geben, in der die Formel H20 nicht vorkommt.


falsch. sie gibt ein falsches bild der chemischen analyse. dass wasser H2O ist, ist kontingent, und erst a posteriori bestimmbar gewesen. wasser ist nicht a priori H2O - denken wir an den fall des "narrenwassers". dementsprechend handelt es sich bei der definition, "wasser ist H2O" um eine echte definition, weil in ihr eine eigenschaft des wassers -ich sprach vom "charakteristikum" des wassers- ausgedrückt wird, die keinesfalls a priori besteht.
es besteht kein zirkel in der definition.
dementsprechend wird der ausdruck "wasser" korrekt für "H2O" verwandt et vice versa.
es ist keine kulturell abhängige definition, da erst eine analyse des wassers offengelegt hat, woraus wasser besteht - nämlich H20 und nicht H2SO4.
der name "wasser" als solcher ist kulturell abhängig - wir kennen genügend andere ausdrücke "aqua", "water" etc.
aber auch sprecher dieser kulturkreise sind daran gebunden, wenn sie von wasser, in unserem sinne, sprechen, von H2O zu sprechen. ansonsten sprechen sie nicht von wasser, sondern von etwas anderem.


Zitat:

Derartige Sätze können nicht empirisch wahr oder falsch sein, sie können nicht durch Erfahrung widerlegt werden.


das ist falsch. erst die chemische analyse konnte zeigen, woraus wasser besteht.
man denke an den fall des "narrenwassers", "narrenwasser ist H2O" ist in unserem fall ein falscher satz, weil Wasser aus H2O besteht, "narrenwasser" hingegen nicht. die empirie widerlegt diesen satz.

entsprechend ist,

Zitat:

Nur innerhalb dieses Sprachgebrauchs gilt, das Thomas schreibt: " also ist der Satz" Das ist Wasser" nur dann wahr, wenn es sich um h2o handelt".

ebenfalls falsch.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 31. Okt. 2004, 01:39 Uhr

Hallo Thomas!

Deinen "simplen erkenntnistheoretischen Grund" habe ich nicht nachvollziehen können.

Wenn wir, so Dein Argument, ohne Rücksicht auf die Chemiker charakterisieren sollten, was Wasser ist, würden wir eine Reihe von Eigenschaften aufzählen, die wir erfahrungsgemäß mit "Wasser" verbinden. Und wenn wir etwas in der Welt sehen, das eine dieser Eigenschaften aufweist (z. B. "fließt durch Flüsse" ), werden wir es anhand dieses "Merkmals" identifizieren - als Wasser eben. So weit, so gut.

Nun sagst Du:


Zitat:

für erkenntnistheoretisch relevant ist in diesem falle allerdings nicht die eigenschaft des wassers, durch flüsse zu fließen. nicht dasjenige, was durch flüsse fließt ist zwangsweise wasser (...). nur wasser ist berechtigterweise wasser zu nennen. nun kommt die chemische analyse hinzu.

Das verstehe ich nicht. Was, glaubst Du, macht denn dieses Wasser aus, das berechtigterweise "Wasser" genannt werden darf? Und wer hat hier die Definitionshoheit? Nur die Chemiker? Jeder? Oder nur Du?

Wenn es Menschen gibt, die mit dem Wort "Wasser" genau dasjenige meinen, "was durch Flüsse fließt", dann werden sie, vor einem beliebigen Fluss stehend und eine beliebige Flüssigkeit hindurchfließen sehend, sagen: "Aha, das ist Wasser." Und weil sie mit "Wasser" nichts anderes meinen als "durch Flüsse fließend", wird ihre Aussage wahr sein.
Es mögen Menschen sein, die mit Wasser sonst nichts anfangen können, die einfach nur eine Bezeichnung brauchen für das Zeugs, das da durch die Flüsse fließt. Dann wird ihnen dieses Kriterium, diese "Eigenschaft" völlig genügen.

Andere Menschen dagegen brauchen Wasser für bestimmte Zwecke, die von beliebigen anderen, vielleicht ähnlichen Flüssigkeiten nicht erfüllt werden. Sie werden darum den Unterschied z. B. zwischen "Wasser" und "Narrenwasser" wichtig finden und auch bald herausbringen, wie man Narrenwasser enttarnt. Dann werden sie zu dem Erkenntniskriterium "fließt durch Flüsse" noch weitere hinzufügen und lernen, diese Kriterien auch mühelos zu verwenden, damit sie Narrenwasser schon auf den ersten Blick erkennen.

Für Chemiker und ihre Zwecke werden diese Kriterien aber immer noch nicht genügen. Sie werden vielleicht nach solchen suchen, die "Wasser" ganz sicher VON ALLEN ANDEREN VORKOMMENDEN STOFFEN unterscheidbar machen. Und sie ruhen folglich nicht eher, als bis sie es auf eine bestimmte Zusammensetzung aus jener abzählbaren und begrenzten Menge von Elementarteilchen-Arten reduziert haben, aus denen sich ALLE ANDEREN VORKOMMENDEN STOFFE zusammensetzen. So kommen sie auf "H2O". Allerdings werden sie zugeben müssen, dass die sonst sehr unspezifisch als "Wasser" bezeichnete Flüssigkeit, die auf der Welt angetroffen wird, noch eine Menge anderer Dinge enthält als NUR H2O-Moleküle und dass "Wasser" je nach Zusammensetzung und Umständen in seinem Verhalten von H2O abweicht.

In allen drei besprochenen Fällen machen die Beteiligten genau das, was Du von ihnen erwartest. Sie wissen, was "Wasser" bezeichnet und woran man es erkennt, und wenn sie etwas sehen, worauf genau diese Kriterien zutreffen, nennen sie es "Wasser" und sagen dabei die lautere Wahrheit.
Deine Forderung, nur dasjenige "Wasser" zu nennen, was "wirklich" Wasser ist, bleibt völlig inhaltsleer, wenn Du den Begriff nicht erst einmal spezifizierst. Wasser ist Wasser. A rose is a rose is a rose. A = A. - "Analytische" Aussagen diesen Typs sind zwar "wahr", nur haben sie nichts mit der Wirklichkeit (als Gegenstand von Erfahrung) zu tun. Und genau darum geht es uns doch?

Auch Dein nächstes Argument kann ich nicht nachvollziehen:

Zitat:

dass wasser H2O ist, ist kontingent, und erst a posteriori bestimmbar gewesen. wasser ist nicht a priori H2O - denken wir an den fall des "narrenwassers". dementsprechend handelt es sich bei der definition, "wasser ist H2O" um eine echte definition, weil in ihr eine eigenschaft des wassers -ich sprach vom "charakteristikum" des wassers- ausgedrückt wird, die keinesfalls a priori besteht.  - es besteht kein zirkel in der definition. - dementsprechend wird der ausdruck "wasser" korrekt für "H2O" verwandt et vice versa.

Die Definition "Wasser ist H2O" sei eine "echte" Definition, weil in ihr eine Eigenschaft des Wassers "ausgedrückt" werde. Aber ist das Merkmal "fließt durch Flüsse" keine Eigenschaft des Wassers?
Wie Du oben ganz zutreffend sagtest, lassen sich am Wasser eine Menge Eigenschaften feststellen – im Grunde unabsehbar viele. Und anhand jeder dieser Eigenschaften – wenn sie hinreichend konstant und distinkt ist – lässt sich der Begriff "Wasser" spezifizieren und empirisch begegnendes Wasser ALS "Wasser" wiedererkennen. "Hinreichend konstant und distinkt" – hinreichend im Hinblick WORAUF? Vielleicht würdest Du antworten: im Hinblick darauf, was Wasser "in Wirklichkeit" oder "an und für sich" ist. Aber was Wasser "wirklich" ist, gesehen ohne die perspektivischen Einschränkungen endlicher Wesen, kann nur wissen, wer ausnahmslos ALLE Eigenschaften des Wassers kennt. Jedes andere Wesen, das nicht ALLE Eigenschaften des Wassers kennt, hat nur einen selektiven Begriff von ihm, d. h. seine Spezifikationen werden irgendwo im Unbestimmten, Ununterscheidbaren enden.
Also kann für endliche Wesen jenes "hinreichend konstant und distinkt" nur bedeuten: für die eigenen Zwecke, z. B. für die Wiedererkennung.

Ob man Prädikate, mit denen sich einem x "Eigenschaften" zuschreiben lassen bzw. anhand derer man vorkommende x als x identifizieren kann, a posteriori oder a priori gewinnt, spielt im Grunde keine Rolle. Nur so viel steht fest: Wenn ich vor einem x stehe und nicht schon VORHER weiß, wonach ich Ausschau halte, wird mich sein Anblick auch über nichts belehren. Wenn ich ein vorkommendes x von einem vorkommenden y unterscheiden will, muss ich VORHER wissen, worin ihr Unterschied besteht bzw. woran ich ihn erkennen kann. Wenn ich nicht weiß, woran man Säugetiere von Fischen mit hinreichender Konstanz unterscheiden kann, werde ich Delphine dem Augenschein nach wohl für Fische halten.
- Entscheidend ist die Invarianz des Kriteriums gegenüber den wechselnden empirischen Daten. Etwas Ähnliches meinte auch Eberhard, als er von Sätzen sprach, die durch die Erfahrung nicht widerlegt werden können.

d. h. in der Situation, in der ich etwas erkennen oder unterscheiden will, muss ich mich auf Vorwissen stützen, das ich nicht erst in dieser Situation gewinne. Und dieses Vorwissen wird mir helfen, die vorliegende Situation einzuordnen. Einzuordnen in ein Klassifikationsschema, das gegenüber den wechselnden Eindrücken festgehalten wird.
In solchen Fällen, wo wir eine Einordnung erfolgreich vornehmen können (" Der Delphin ist ein Säugetier" ), sprechen wir von einer wahren Aussage. Denn wir konnten feststellen, dass Delphine genau jene Kriterien erfüllen, die wir als konstante Eigenschaften allen Säugetieren zuschreiben.
Wie zutreffend unser Vorwissen über ALLE Säugetiere ist, ist in diesem Moment nicht relevant. Hier können wir uns irren. Wir können uns auch im Grad der Allgemeinheit jener Prädikate irren, die wir – bisher – Säugetieren zugeschrieben haben. Vielleicht gibt es Säugetiere, die uns zur Korrektur unseres Vorwissens veranlassen. Wale und Delphine z. B. könnten uns darüber belehren, dass nicht alle Säugetiere auf dem Land leben, wie wir vielleicht bis dahin angenommen hatten.

Usw. <<< Dieses "und so weiter" zeigt an, dass dieser Prozess der Spezifizierung, Einsortierung und Respezifizierung grundsätzlich nicht abschließbar ist. Nur wenn wir eine Sache in ihrer "Wirklichkeit" vollständig kennen könnten, wäre ein Ende absehbar.

Also: Woran kann man "echte" von "unechten" Definitionen unterscheiden  (vorausgesetzt, dass wir nur von zutreffenden Definitionen sprechen)?

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 31. Okt. 2004, 09:53 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich möchte gerne noch einmal erläutern, worin der epistemisch relevante punkt in meiner argumentation liegt. dazu zitiere ich zunächst einmal einige wichtige sätze aus eberhards beitrag.

eberhardt schrieb
Zitat:

Es gibt nicht DIE  richtige Sprache. Die Benennung der Dinge, die Bezeichnung des Bezeichneten ist soziale Konvention.


in diesem punkt gebe ich eberhard vollkommen recht. und ich denke auch, dass du, hermeneuticus, zustimmen wirst, dass die benennung der dinge, eine soziale konvention ist. dass wir also wasser mit "wasser" benennen, ist eine soziale konvention. ebenso wie es konvention ist, dass medizinische terminologie weitgehend mit lateinischen und griechischen termini technici arbeitet. dass der arzt, der sich zum beispiel mit dem herzen befaßt eben kardiologie betreibt, und nicht herzlehre ist ein fall von benennung, die durch eine soziale konvention festgelegt, bzw. auch wieder geändert werden kann.

des weiteren schreibt eberhard, dass
Zitat:

Wenn es sich um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handeln soll, dann müsste es eine von diesem Satz unabhängige Definition des Wortes "Wasser" geben, in der die Formel H20 nicht vorkommt.


an dieser stelle begeht eberhard einen doppelten fehler. zum einen behauptet er, dass wenn dieser satz ein satz über die wirklichkeit sei, dann müsse es eine unabhängige definition des wortes wasser geben, innerhalb derer die formel H2O nicht vorkommt.
er kritisiert, dass es sich bei dem satz "wasser ist H2O" um eine art zirkeldefinition handelt. wenn wasser H2O ist, und ich wasser als H2O definiere, dann habe ich -nach eberhardt- nichts anderes getan, wie derjenige, der sagt, wir wollen von nun an alle dinge, die rot sind, "rote dinge" nennen.

Zitat:

Um dies deutlich zu machen, wäre es angebracht gewesen, zu schreiben: " 'Wasser' bedeutet H20."


Zitat:

Ich würde im Unterschied zu Thomas "H20" als Definiens von "Wasser" bezeichnen und nicht als Eigenschaft von "Wasser", um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

besonders die letzte formulierung ist doppelbödig. und  für die diskussion fatal.
ich stimme eberhard zu, wenn er "H2O" als definiens von "wasser" bezeichnet. und ich denke, dass man dem auch unbesehen zustimmen kann. allerdings erweckt die formulierung "nicht [...]eigenschaft von 'wasser'" einen falschen eindruck. und damit begeht eberhard seinen zweiten fehler - nämlich einen epistemischen fehler.

worin genau besteht nun dieser fehler? der fehler ist nichts anderes als ein folgefehler aus
Zitat:

Die Benennung der Dinge, die Bezeichnung des Bezeichneten ist soziale Konvention.

wenn wir uns zum beispiel -kurz- der benennung von personen widmen; ich nehme meinen eigenen namen einmal als beispiel. so kann man sagen, dass ich -hier im forum- "jacopo belbo" heiße und mit bürgerlichem (vor-)namen "thomas" heiße. innerhalb dieses forums ist "jacopo belbo" ein starrer bezeichnungsausdruck für einen teilnehmer des forums, der mit bürgerlichem namen "thomas" heißt. beide namen gelten aufgrund sozialer konvention -sicher, ich habe meinen namen im forum selbst gewählt, aber er ist für alle anderen verbindlich; verbindlich in dem sinne, dass, wenn sie mir zum beispiel eine privatnachricht schreiben wollen, müssen sie sich an "jacopo belbo" wenden.
nun ist es aber so, dass es sich bei "jacopo belbo" um einen namen handelt. dem würde auch eberhard unbesehen zustimmen. jedoch ist es auch so, dass es eine eigenschaft von "thomas" ist, "jacopo belbo" zu sein. neben anderen eigenschaften, die ich besitze (so und so groß zu sein, die und die nummer des personalausweises zu haben etc.) kommt mir die eigenschaft zu, "jacopo belbo" zu sein.
eberhard würde einwenden, dass es sich bei "jacopo belbo" um keine eigenschaft im sinne einer materialen eigenschaft handelt. so wie es die eigenschaft von körpern (auch mir) ist, so und so schwer zu sein. er würde einwenden, dass "jacopo belbo" ein weiterer name für mich sei. und dieser name sage nichts über meine materialen eigenschaften.
wenn wir nun diese betrachtung auf "wasser" ausdehnen, so können wir analog eberhards behauptung,
Zitat:

Um dies deutlich zu machen, wäre es angebracht gewesen, zu schreiben: " 'Wasser' bedeutet H20."

damit übersetzen, dass wir sagen: dem namen "wasser" kommt ein weiterer name zu, nämlich "H2O". dementsprechend sagt eberhard scheinbar berechtigt,  
Zitat:

Um dies deutlich zu machen, wäre es angebracht gewesen, zu schreiben: " 'Wasser' bedeutet H20."

doch der fall "thomas" /" jacopo belbo" ist nicht analog zum fall "wasser" /" H2O".

während "jacopo belbo" keine materiale eigenschaft von "thomas" ist, so ist im gegensatz dazu "H2O" eine materiale eigenschaft von "wasser". wir sagen umgangssprachlich, dass wasser aus H2O besteht. wir sagen nicht "thomas" besteht aus "jacopo belbo". das ist ein epistemischer unterschied. während wir im ersten fall, dem würde ich zustimmen, von einem weiteren namen für thomas sprechen, so sprechen wir im zweiten fall nicht von einem weiteren namen für wasser, sondern von einer eigenschaft des wassers; nämlich: H2O zu sein, bzw. "aus H2O zu bestehen".

beide male handelt es sich um eine "benennung". doch beide male unterscheiden sich die benennungen funktional - was benannt wird ist etwas anderes; "jacopo belbo" ist -si licet dicendi- von anderer qualität als "H2O".

das ist der epistemisch relevante unterschied.

- II
- jacopo_belbo am 31. Okt. 2004, 10:25 Uhr

zum Schluss möchte ich noch etwas zur identität von wasser und H2O sagen. ich denke, dass ich vielleicht in diesem punkt ein wenig missverstanden worden bin.
der unterschied beruht logisch gesehen auf zwei formeln, anhand derer auch die termini a priori und a posteriori bzw. kontingent und notwendig ihre berechtingung erhalten. ich habe mich in meinem vorigen beitrag (30.10.04) ein wenig missverständlich ausgedrückt; das bitte ich zu entschuldigen.

in der (modal-)logik sprechen wir von zwei unterschiedlichen arten von "identität" bzw. "identitätsaussagen". wir können diese formal derart unterscheiden, dass wir schreiben:
I)  a=a
II) a=b

aussagen der art (I) sind a priori gültig. ohne ansehen von a ist der satz "a=a" gültig. in seiner darstellung durch negation enthüllt dieser satz seine normative kraft, bzw. seine notwendigkeit: "~(a=~a)" oder mit einfachen worten: "es kann nicht sein, dass a identisch ist mit ~a", d. h. "es gilt notwendiger weise, dass a=a" oder "[] a=a" bzw. "[] ~(a=~a)".

aussagen der art (II) sind nicht unbedingt notwendigerweise gültig. zum beispiel ist der satz "aristoteles ist der schüler platons" kein notwendiger satz. der satz ließe sich formal so beschreiben "<> a=b". oder mit anderen worten "es ist möglich, dass aristoteles der schüler platons war".
wenn wir nun die aussagen (I) und (II) auf unser beispiel beziehen, so haben wir zwei arten der identität. zum einen haben wir "[] a=a" oder "es ist notwendig, dass aristoteles aristoteles ist" ; sowie "<> a=b" oder "es ist möglich, dass aristoteles der schüler platons ist". a priori notwendige gültigkeit hat nur (I). a posteriori gültig ist möglicherweise (II). das gilt es erst herauszufinden.
denken wir uns nun den fall, dass aristoteles nicht der schüler platons war, sondern, dass aristoteles beschlossen hat, zu seiner tante aufs land zu fahren, und griechischer weinbauer geworden ist, und nie auch nur einen philosophischen gedanken gefaßt hat.
sätze der art (I) bleiben davon unberührt. aristoteles bleibt aristoteles. sätze der art (II) ändern ihren wahrheitswert. in diesem sinne wäre der satz, dass aristoteles der schüler platons ist, falsch.
um nun die tragweite herauszustellen denken wir uns folgendes:
wir haben eine welt, die mit ihrer historie so verlief, wie sie bisher verlaufen ist. in unserer welt ist "aristoteles der schüler platons".
wir haben eine zweite welt, in welcher paul meyer zur gleichen zeit wie aristoteles gelebt hat. wir setzen weiter voraus, dass aristoteles, wie oben beschrieben, zu seiner tante aufs land gefahren ist - mit allen konsequenzen. darüberhinaus trat paul meyer der schule platons bei. er wurde berühmtester schüler platons und veröffentlichte zahlreiche werke zum thema der logik, metaphysik, meteorologie etc.

in unserer welt drückt der satz "aristoteles ist der schüler platons" eine kontingente wahrheit aus. es wäre auch anders denkbar gewesen, so wie es in unserer zweiten welt der fall war.
um nun aber den namen "aristoteles" korrekt zu verwenden, ist es notwendig, dass mit "aristoteles" auch  aristoteles benannt wird. wenn wir in unserer welt mit "schüler von platon" aristoteles benennen, so benennen wir in der zweiten welt damit in wirklichkeit nicht aristoteles, sondern paul meyer.

wie verhält es sich nun mit wasser?
dass wasser in unserer welt durch flüsse fließt, ist eine kontingente eigenschaft vergleichbar mit der eigenschaft von aristoteles, "schüler von platon" zu sein. wir können uns zwei verschiedene welten denken, in welchen beidemale einer substanz die eigenschaft zukommt, durch flüsse zu fließen.
aber deshalb werden wir nicht gezwungen sein, auch beide flüssigkeiten notwendigerweise mit wasser zu bezeichnen. wir könnten es in unserem falle mit wasser zu tun haben und im zweiten fall mit "narrenwasser" vice versa. durch die eigenschaft "fließt durch flüsse" wird wasser nicht korrekt benannt.

widmen wir uns nun der eigenschaft "H2O zu sein".
dass wasser H2O ist, ist a priori gesehen eine kontingente eigenschaft. es ist nicht einzusehen, warum wasser nicht auch a priori gesehen H2SO4 hätte sein können. denken wir an das "narrenwasser". so hätte ein chemiker in einer zweiten welt eine andere strukturformel für "wasser" finden können.
wir mussten also erst das wasser analysieren, um herauszufinden, woraus wasser besteht. und diese analyse lieferte das ergebnis, dass wasser identisch ist mit H2O. oder logisch gesehen (a=b).
der witz an der sache ist, dass sich nun aber herausstellt, dass a posteriori die eigenschaft, dass wasser H2O ist, eine notwendige eigenschaft von wasser ist. es ist nicht denkbar, dass wir von wasser sprechen, ohne, dass es sich um H2O handelt.
wenn wir den begriff wasser als namen weiterhin korrekt verwenden wollen, so benennen wir nur H2O korrekt mit wasser. wenn wir an die zweite welt denken, so werden wir sehen, dass wenn die substanz, die durch flüsse fließt, nur dann korrekt "wasser" genannt wird, wenn sie auch H2O ist. andernfalls werden wir von "narrenwasser" sprechen müssen.
es ist a posteriori notwendig, dass wasser H2O ist.

ich hoffe damit einige missverständnisse geklärt zu haben.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 31. Okt. 2004, 10:41 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

ich verstehe Deine Ausführungen als einen Hinweis auf die Abhängigkeit des Individuums von sozialen Kräften und Bindungen, die sein Denken und Sprechen unentrinnbar prägen, die dem Individuum andererseits aber auch eine bewährte Ordnung bieten.

Anders ausgedrückt: Du hältst die Ansicht, wir hätten "bei der Bezeichnung und Einteilung der Dinge freie Hand" für unzutreffend. Diese unentrinnbare Prägung ist gewissermaßen der Preis, den das Individuum für die "gelingende Praxis" entrichtet, die die tradierte soziale Gemeinschaft bereitstellt.

Dem stimme ich insofern zu, als ein Wortgebrauch, der nur von einem Individuum praktiziert wird und nicht von anderen Individuen übernommen wird, nicht zum Bestandteil einer Sprache wird, sondern höchstens als Unikum zu vermerken ist.

So wie sich in der Musik oder der Malerei neue Stilrichtungen entwickeln, indem Einzelne künstlerisches Neuland betreten, andere damit beeinflussen, die ihrerseits neue Elemente hinzufügen, die wiederum von anderen aufgenommen werden (z. B. beim Übergang von der Musik des Rokoko zur Wiener Klassik und zur Romantik oder beim Übergang vom Swing zum Bebop), so entwickelt sich auch die Umgangssprache als ein kollektives Werk zahlloser Einzelner.  

So wie man wo man einzelnen Künstlern zwar einen bestimmten Einfluss auf die Entwicklung einer neuen Stilrichtung nachsagen kann, ohne sagen zu können, dass sie diese Stilrichtung geschaffen hätten, so sind zwar einzelne Individuen sprachschöpferisch tätig, aber die Entwicklung der Sprache liegt nicht in ihrer Hand.

Dies ist gewissermaßen die Perspektive des Soziologen bzw. Historikers der Sprache.

Demgegenüber habe ich als fragender Mensch und besonders als Wissenschaftler, für den die Beantwortung von Fragen Beruf ist, eine andere Perspektive. Ich bewege mich in einer als solcher innovativen und kreativen Praxis "mit den für diese Gemeinschaft geltenden Normen, Zielen, Gewohnheiten, Praxen, Überzeugungen... und eben auch einer bestimmten (sprachlichen) "Ordnung der Dinge". Hier tauchen neue Phänomene auf (z. B. die Krater der von der Erde abgewandten Seite des Mondes), die benannt werden müssen, es müssen neue Begriffe definiert werden, um Aussagen überschaubar zu halten (" Bruttosozialprodukt" statt "Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in  einer Volkswirtschaft … ." ), es müssen vorhandene vage Begriffe präzisiert werden (z. B. "Lernen" im psychologischen Sinne), es müssen neuartige Unterscheidungen getroffen werden (z. B. zwischen "subjektiver" und "objektiver Richtigkeit"  von Entscheidungen).

Ich habe als Wissenschaftler einerseits die Verständlichkeit und Nachprüfbarkeit meiner Ergebnisse zu beachten. Ich benötige andererseits aber auch die Möglichkeit, begrifflich neue Wege zu gehen, die zur Beantwortung neuer Fragen und zur Formulierung neuer Ergebnisse notwendig sind.

Soviel fürs erste von Eberhard.

- II
- fockd am 31. Okt. 2004, 12:20 Uhr


Zitat:

Die Benennung der Dinge, die Bezeichnung des Bezeichneten ist soziale Konvention.  


Stimmt an sich schon. Aber warum gibt es denn eine solche soziale Konvention?
Das wir das eine so und das andere wieder anders aussprechen liegt nicht nur an Konventionen, die zufällig getroffen worden sind, sondern gibt es auch Bedingungen für Sprache aus der Lautenbildung. z. B. wenn etwas eben gerade so einfacher ausgesprochen werden kann.
Die Zeichen sind auch nicht nur "irgendwie" entstanden, sondern sie sind abgekürzte Bilder, mithin Anschauungen. Die Forschung nach solchen Ursachen ist aber im Allgemeinen recht schwierig und undurchschaubar.

- II
- jacopo_belbo am 31. Okt. 2004, 12:52 Uhr

hallo fockd,

vielen dank für deinen beitrag.
könntest du
Zitat:

Die Zeichen sind auch nicht nur "irgendwie" entstanden, sondern sie sind abgekürzte Bilder, mithin Anschauungen.


ein wenig näher erläutern?

- mfg thomas


- II
- Hermeneuticus am 31. Okt. 2004, 14:05 Uhr

Hallo Eberhard!


on 10/31/04 um 10:41:52, Eberhard wrote:

Ich verstehe Deine Ausführungen als einen Hinweis auf die Abhängigkeit des Individuums von sozialen Kräften und Bindungen, die sein Denken und Sprechen unentrinnbar prägen, die dem Individuum andererseits aber auch eine bewährte Ordnung bieten.

Da verstehst Du mich teilweise falsch. Von "Abhängigkeit" des Individuums von "sozialen Kräften" (was sind "soziale Kräfte" ??) und "Bindungen" habe ich nicht gesprochen. Und erst recht nicht davon, dass diese "Kräfte" das Denken und Sprechen des Individuums "unentrinnbar prägen". Und von "bewährter Ordnung" habe ich auch nicht gesprochen, sondern nur von jener "Ordnung der Dinge", die sich in den Klassifikationsrastern artikuliert, die allen Sprechern einer Sprache gemeinsam sind und die mit der intersubjektiv geteilten Praxis des Sprechens dieser Sprache und der intersubjektiven Geltung ihrer Regeln zusammengehören.

Dass eine Sprache eine intersubjektiv geteilte Praxis mit intersubjektiv verbindlichen Regeln ist, in der Begriffe verwendet werden, die eine intersubjektiv bekannte Bedeutung haben, wirst Du kaum bestreiten. Und Du wirst auch kaum bestreiten, dass es keine soziale Organisation, keine gemeinsame Welt geben könnte, wenn es die verbindlich geteilte Sprachpraxis nicht gäbe. In diesem Sinne ist die Sprache in der Tat "unentrinnbar".
Wittgenstein: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."

Nun ist es einfach eine Tatsache, dass sprachliche Zeichen nicht durch gemeinsamen Beschluss (= buchstäblich "Konvention" ) in die Welt gekommen und ihre Regeln nicht durch Beschluss ihre Verbindlichkeit erlangt haben.

Schon in unseren Diskussionen um ethische Normen wurde sehr deutlich, dass Dir diese Tatsache nicht ins naturrechtliche Schema (" Gesellschaftsvertrag" ) passt. Auch da habe ich Dich wiederholt darauf hingewiesen, dass die Regeln der Sprache nicht durch Grammatikbücher in die Welt gekommen sind. Dein Begriff von Norm sieht aber nur explizite Sollsätze oder Aufforderungen vor. Und wenn jemand von "impliziten Regeln" spricht, die mit einer gelingenden Praxis zusammenfallen und zugleich auch eine intersubjektive Verbindlichkeit haben, siehst Du - nein, nicht rot, sondern braun.

Du würdest Dir selbst, denke ich, einen Gefallen tun, wenn Du an dieser Stelle weiterlernst. Deine Einteilung der Welt ist an dieser Stelle nicht hinreichend spezifiziert. Als Einstieg empfehle ich die Lektüre von F. de Saussures "Cours".

Zitat:

Diese unentrinnbare Prägung ist gewissermaßen der Preis, den das Individuum für die "gelingende Praxis" entrichtet, die die tradierte soziale Gemeinschaft bereitstellt.

Dass sich Sprachen ständig verändern, steht ebenfalls in meinem Beitrag, allerdings tun sie dies nicht (oder nur peripher) durch ausdrückliche "Übereinkünfte". Ein Sprachgebrauch wandelt sich, und es lassen sich dafür ganz offenbar keine identifizierbaren Subjekte und keine willentlichen Entschlüsse verantwortlich machen.

Nun noch ein persönliches Wort:
Deine wiederholten Versuche, mich in eine national-konservative, gar völkische Ecke zu stellen, wann immer ich auf solche Fakten hinweise, kann ich inzwischen nur noch als infam zurückweisen. Und ich verstehe in diesem Punkt aus persönlichen, biographischen Gründen keinerlei Spaß.

H.

- II
- Eberhard am 31. Okt. 2004, 15:07 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

wenn ich Dich falsch verstanden habe, nehme ich meine Interpretation Deiner Ausführungen natürlich zurück. Und ich kann Dir versichern, dass ich bei der Abfassung meines Beitrages nicht im Entferntesten daran gedacht habe, Dich in eine völkische oder gar braune Ecke zu drängen. Wenn das bei Dir so angekommen ist, bitte ich das zu entschuldigen.

Ich werde deshalb nur zur  Kenntnis nehmen, dass Du die Ansicht für falsch hältst, dass wir in der Lebenswelt bei der "Bezeichnung und Einteilung der Dinge" freie Hand hätten und dass alles nur eine Frage der zweckmäßigen Wortwahl und Definition sei.

Da Du die Wissenschaften hiervon weitgehend ausnimmst, bleibt mir auch nach Deinem Verständnis genügend Spielraum, um eine am Ziel der Gewinnung neuer Erkenntnisse ausgerichtete Gestaltung der Sprache zu vertreten und die Begriffe als hierfür mehr oder weniger geeignete Mittel zu verstehen,

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 31. Okt. 2004, 15:30 Uhr

hmm... kaum lobt man die leute, wird das lob durch die folgende praxis unterminiert.

ich bitte also darum, keine persönlichen glaubenskriege anzufangen. bisher verlief die diskussion -nach meiner einschätzung- recht produktiv. und es wäre schön, wenn das auch so bliebe; und dass das niveau nicht durch irgendwelche streitereien unter teppichkanten-niveau absinkt.
--------------------
zu dem was du geschrieben hast, hermeneuticus,

Zitat:

Und Du wirst auch kaum bestreiten, dass es keine soziale Organisation, keine gemeinsame Welt geben könnte, wenn es die verbindlich geteilte Sprachpraxis nicht gäbe.


ich denke, dass du da einen wahren gedanken aussprichst, nur würde ich die reihenfolge -und damit die kausalitäten- ein wenig anders sortieren.
dass wir eine gemeinsame welt haben, auf die wir bezug nehmen und dazu stellung nehmen können, ermöglicht erst eine sprachliche praxis von verschiedenen sprechergruppen und sprachen.
umgekehrt wirkt das ein wenig holprig, wenn wir über eine gemeinsame sprechergruppe, quasi zurück zur gemeinsamen welt finden müßten.

Zitat:

Wittgenstein: "5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." (wittgenstein: TLP)


diese stelle wittgensteins, hat schon oft für begründungsansätze aller art herhalten müssen. ich gebe den kontext des tractatus zu bedenken, und dementsprechend den besonderen charakter der sprache, wie sie im tractatus dargestellt wird. denken wir an die "elementarsätze" von denen wittgenstein spricht,

Zitat:

1.11 die welt ist durch die tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle tatsachen sind

4.001 die gesamtheit der sätze ist die sprache

4.22 der elementarsatz besteht aus namen

4.26 die angabe aller wahren elementarsätze beschreibt die welt vollständig

4.51 angenommen, mir wären alle elementarsätze gegeben: dann läßt sich einfach fragen: welche sätze kann ich aus ihnen bilden? und das sind alle sätze und so sind sie begrenzt.

5.524 wenn die gegenstände gegeben sind, so sind uns damit auch schon alle gegenstände gegeben.
wenn die elementarsätze gegeben sind, so sind damit auch alle elementarsätze gegeben.

5.5561 die empirische realität ist begrenz durch die gesamtheit der gegenstände. die grenze zeigt sich wieder in der gesamtheit der elementarsätze.
die hierarchien sind, und müssen unabhängig von der realität sein.

5.5571 wenn ich die elementarsätze nicht a priori angeben kann, dann muss es zu offenbarem unsinn führen, sie angeben zu wollen [hervorhebung von mir]

5.6 die grenzen meiner sprache bedeuten die grenzen meiner welt.


besonders auf formulierungen wie "alle" ist zu achten, um zu verstehen, was wittgenstein mit "grenze" meint. es scheint, als handele es sich um eine absolute grenze, die eben dadurch gegeben ist, dass alle gegenstände und damit alle elementarsätze, folglich auch alle (denkbaren) sätze gegeben sind. fassen wir alle in dieser art denkbaren sätze in einer menge zusammen, so handelt es sich um eine abgeschlossene menge, die sozusagen die grenze zieht jenseits derer sich nichts mehr sinnvoll sagen läßt.und eben jene formulierung "alle" ist es, die in diesem falle problematisch ist. woher weiß man, dass man alle elementarsätze aufgestellt hat? und wie verhält es sich mit dem satz. dass es alle elementarsätze sind? im eigentlichen sinne ist das nämlich gerade kein elementarsatz, und somit ein satz der zum ganzen im widerspruch stünde. - ich möchte das an dieser stelle nicht weiter ausführen.


Zitat:

Nun ist es einfach eine Tatsache, dass sprachliche Zeichen nicht durch gemeinsamen Beschluss (= buchstäblich "Konvention" ) in die Welt gekommen und ihre Regeln nicht durch Beschluss ihre Verbindlichkeit erlangt haben.


d'accord. dem kann ich nur zustimmen.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 31. Okt. 2004, 16:34 Uhr

Hallo Eberhard!

Dass Du, was das Verständnis von "gelingender Praxis", "impliziten Regeln" und ihrer unreflektierten Befolgung angeht, einer standardisierten, aber verkürzten Einteilungsroutine folgst, möchte ich an zwei Zitaten belegen, die aus den ersten Tagen meiner Teilnahme an diesem Forum datieren.

Da schriebst Du im Thread "Zu erfinden: konsensfähige soziale Normen" an mich: (http://www.philtalk.de/msg/1081917464-180.htm)

Beitrag Nr. 183

Zitat:

Ich will hier nicht mutmaßen, aber ich muss bei diesen Formulierungen unwillkürlich an die "Volksgemeinschaft" denken und an die Millionen von Menschen, die einen Eid auf den "Führer" dieser Volksgemeinschaft geschworen hatten, und die unter der Losung "Führer befiehl, wir folgen" diesem blind folgten.

Meine Antwort im Beitrag Nr.186:

Zitat:

In diesem Zusammenhang versteht sich auch mein Hinweis auf die Sprache, die Straßenverkehrsordnung (in denen ja tatsächlich eine weitgehend "blinde"  Befolgung der Regeln stattfindet und sich im aufgeklärten Eigeninteresse auch empfiehlt...). Daher der Hinweis auf unseren primär unreflektierten Erwerb von Normen (von "Geschmack", von "Stil" und "Takt" und was der Dinge mehr sind, die unsere Alltagsroutine bestimmen und ermöglichen). Dass Du Dich da gleich an "Volksgemeinschaft" und "Führer" erinnert fühlst, zeigt mir, dass Du entweder über die Strukturen und Funktionsweisen dessen, was man so "Lebenswelt" nennt, noch nicht sehr viel nachgedacht haben kannst oder mich bewusst missverstehen wolltest.

(Zur Erinnerung: Die Formulierung "Wir folgen einer Regel blind" stammt aus den "Philosophischen Untersuchungen" von Wittgenstein und nicht aus dem "Wörterbuch des Unmenschen".)

Auch nach dieser ersten Attacke hast Du trotz meiner Zurückweisungen noch mehrmals ähnliche Zuordnungen vorgenommen oder insinuiert, und ich hab das satt. Ich möchte es darum als abgehakt betrachten.

Aber ich wiederhole: Deine Wahrnehmung ist an dieser Stelle unterspezifiziert. Du kannst/willst über die genannten Punkte offenbar nicht unvoreingenommen nachdenken. (Du sprichst ja selbst davon, Du müsstest "unwillkürlich denken an..." )
Mir könnte Deine Unwillkürlichkeit Schnuppe sein, wenn sie mich nicht persönlich beträfe. Aber, tut mir leid, eine Assoziierung meiner Gedanken mit "völkischen" Ideen betreffen mich persönlich.

Aber ich bin gern bereit, die Sache abzuhaken.
Ein Handschlag darauf.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 31. Okt. 2004, 17:44 Uhr


Zitat:

Aber ich bin gern bereit, die Sache abzuhaken.  
Ein Handschlag darauf.


[smiley=gutidee.gif] [smiley=offtopic.gif] [smiley=bitte.gif]

- II
- Hermeneuticus am 31. Okt. 2004, 19:13 Uhr

Hallo Thomas!


on 10/31/04 um 10:25:58, jacopo_belbo wrote:

dass wasser in unserer welt durch flüsse fließt, ist eine kontingente eigenschaft vergleichbar mit der eigenschaft von aristoteles, "schüler von platon" zu sein. wir können uns zwei verschiedene welten denken, in welchen beidemale einer substanz die eigenschaft zukommt, durch flüsse zu fließen.
aber deshalb werden wir nicht gezwungen sein, auch beide flüssigkeiten notwendigerweise mit wasser zu bezeichnen. wir könnten es in unserem falle mit wasser zu tun haben und im zweiten fall mit "narrenwasser" vice versa. durch die eigenschaft "fließt durch flüsse" wird wasser nicht korrekt benannt.


Du scheinst vorauszusetzen, dass eine "korrekte" Bezeichnung NOTWENDIG mit ihrem Referenten verbunden ist. Aber bei empirischen Urteilen - und eine Klassifikation ist ein empirisches Urteil - ist eine solche Notwendigkeit nicht zu erreichen. Kant sprach von der "bedingten Notwendigkeit" empirischer Urteile, die eigentlich gar keine Notwendigkeit sei - weil sie eben von (empirischen) Bedingungen abhängt, die erfüllt sein müssen. Und ein klassifikatorischer Begriff wie "Wasser" muss, um überhaupt auf irgendetwas in der Welt referieren zu können, diese Bedingungen (" Kriterien" ) enthalten.

Mir scheint übrigens, dass Du nicht hinreichend zwischen Eigennamen und Begriffen unterscheidest. Eigennamen referieren auf Individuen und klassifizieren diese Individuen nicht. Es gibt viele Menschen auf der Welt, die "Thomas" heißen, aber der Name "Thomas" verweist nicht auf eine ihnen allen gemeinsame "Eigenschaft" - sozusagen die "Thomasheit" der Thomase, an der man jeden vorkommenden Thomas erkennen kann. Ein Name hat genau die entgegengesetzte Funktion, nämlich auf die Unverwechselbarkeit seines Trägers zu verweisen, also seine Individualität. Wenn in einer Gruppe ein Michael, ein Thomas, ein Patrick usw. anwesend sind, erfüllt der Vorname "Thomas" diesen Zweck auch hinreichend. In den Akten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte dagegen wäre ein bloßes "Thomas" zur sicheren Identifikation seines Trägers nicht hinreichend. Also nimmt man z. B. das Geburtsdatum, den ersten Buchstaben des Nachnamens und eine laufende Nummer hinzu.

Die Kriterien für die "korrekte" Verwendung eines Eigennamens sind folglich andere als die für die korrekte Zuschreibung eines Klassifikationsbegriffs.

Zitat:

widmen wir uns nun der eigenschaft "H2O zu sein".
dass wasser H2O ist, ist a priori gesehen eine kontingente eigenschaft. (...)  
wir mussten also erst das wasser analysieren, um herauszufinden, woraus wasser besteht. und diese analyse lieferte das ergebnis, dass wasser identisch ist mit H2O. oder logisch gesehen (a=b).
der witz an der sache ist, dass sich nun aber herausstellt, dass a posteriori die eigenschaft, dass wasser H2O ist, eine notwendige eigenschaft von wasser ist. es ist nicht denkbar, dass wir von wasser sprechen, ohne, dass es sich um H2O handelt.


Wie begründet sich die "Notwendigkeit" der "Eigenschaft" H2O? Du sagst, durch eine "Analyse". Es ist freilich eine sehr gründliche Analyse, die zu der Unterscheidung durch molekulare Strukturen führt. Aber unterscheidet sich eine solche gründliche Analyse grundsätzlich (strukturell) von einer solchen, die bei den Eigenschaften "nass", "fließt durch Flüsse", "gefriert bei O Grad C" usw. Halt macht? Keineswegs. Denn auch diese augenscheinlichen Kriterien erfüllen ihren Zweck dort, wo sie verwendet werden.

Wenn man behaupten könnte, dass eine tiefergehende Unterscheidung als die durch die atomaren Bestandteile der Moleküle nicht möglich sei; dass diese Analyse die "letzte", "abschließende" sei - dann könnte man der Zuordnung von "Wasser" und "H2O" das Prädikat "notwendig" verleihen. Aber um ein solches Urteil fällen zu können, müsste man ALLE invarianten Eigenschaften des Wassers in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft EMPIRISCH kennen - und das ist für uns endliche Wesen etwas viel verlangt.

Die Kennzeichnung des Wassers durch seine molekulare Struktur zeichnet sich zugegebenermaßen durch eine erhebliche Konstanz aus. Aber, und das ist mir wichtig, sie wird um den Preis einer sehr hohen Selektivität erkauft. Oder anders gesagt: "H2O" ist ein sehr abstrakter Begriff.

Zitat:

wenn wir den begriff wasser als namen weiterhin korrekt verwenden wollen, so benennen wir nur H2O korrekt mit wasser.


Wie bereits angedeutet: "Wasser" ist kein Name, sondern ein Begriff mit Kriterien, die auf eine Pluralität vorkommender Entitäten gleichmaßen zutreffen. Und es ist die Erfüllung dieser Kriterien, die dazu berechtigen, die jeweils vorliegende Entität dem Begriff zu subsumieren. Eigennamen fehlen solche Kriterien. Es ist keine kognitive Leistung, jemanden "Thomas" zu nennen, sondern die Befolgung einer praktischen Vorschrift, die mit der Namensgebung (einem Sprechakt) verbindlich festgelegt wurde.

Gruß
H.

- II
- Eberhard am 31. Okt. 2004, 19:43 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

seit der anfänglichen Kontroverse habe ich anhand anderer Beiträge von Dir bereits seit längerem erkannt, dass Du nicht dem "völkischen" Denken anhängst. Ich denke, Du hast Dein anfängliches Bild von mir ebenfalls korrigieren müssen. Was mich betrifft ist die Sache deshalb geklärt.

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 31. Okt. 2004, 21:21 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich freue mich sehr über deinen beitrag. du hast wieder einige wichtige kritikpunkte geliefert.

Zitat:

Du scheinst vorauszusetzen, dass eine "korrekte" Bezeichnung NOTWENDIG mit ihrem Referenten verbunden ist.

ja. oder formulieren wir es etwas anders: ich unterscheide zwischen starren bezeichnungen wie zum beispiel "wasser" und "H2O". und anderen bezeichnungen, die nicht starr sind, zum beispiel "der bundeskanzler".
wasser ist notwendigerweise mit H2O verbunden. "der bundeskanzler" ist nicht notwendigerweise mit "gerhardt schröder" verbunden. starre bezeichnungsausdrücke bezeichnen ihren referenten und nur ihren referenten.

die beziehung zwischen bezeichnungsausdruck und referent ist kausaler natur. ähnlich wie wir kinder taufen, so erhält der referent eine virtuelle taufe. ich denke, das ist im weitesten sinne das, was wittgenstein mehrfach in den PU (philosophischen untersuchungen) im sinn hatte, als er davon sprach, den dingen "namenstäfelchen" umzuhängen.

Zitat:

Aber bei empirischen Urteilen - und eine Klassifikation ist ein empirisches Urteil - ist eine solche Notwendigkeit nicht zu erreichen.

warum sollte diese notwendigkeit nicht zu erreichen sein? dass licht eine elektromagnetische welle ist, ist ebenso eine notwendigkeit wie, dass wasser H2O ist.
ich habe darauf verwiesen, dass diese notwendigkeit keine notwendigkeit a priori ist.
da ich die entsprechende stelle bei kant nicht im sinn habe, bitte ich dich, die stelle ggf. herauszusuchen. ich würde die passage gern noch einmal nachlesen, bevor ich mich dazu äußere.

Zitat:

Mir scheint übrigens, dass Du nicht hinreichend zwischen Eigennamen und Begriffen unterscheidest. Eigennamen referieren auf Individuen und klassifizieren diese Individuen nicht.

stimmt. ich unterscheide überhauptnicht zwischen eigennamen und begriffen - weil ich dazu bisher keinen bedarf sehe. was unterscheidet denn einen begriff von einem "namen" bzw. einem bezeichnungsausdruck?

Zitat:

Es gibt viele Menschen auf der Welt, die "Thomas" heißen, aber der Name "Thomas" verweist nicht auf eine ihnen allen gemeinsame "Eigenschaft" - sozusagen die "Thomasheit" der Thomase, an der man jeden vorkommenden Thomas erkennen kann. Ein Name hat genau die entgegengesetzte Funktion, nämlich auf die Unverwechselbarkeit seines Trägers zu verweisen, also seine Individualität.

das problem entsteht erst garnicht. durch die kausale referenz zwischen starrem bezeichnungsausdruck und referenten wird diese beziehung eindeutig geregelt.
mein name "thomas" wurde mir bei meiner geburt gegeben. derjenige, der mit "thomas" mich bezeichnet, nutzt eine kausale reihe der referenz. die kausale referenzkette wird von allen, quasi "an der taufe beteiligten", personen geteilt und kann von da an weitergegeben werden. das heißt, dass personen, die meinen namen in einer beschreibung verwenden, mich aber nicht kennen, auf mich keinen bezug nehmen können. wesentlich ist, dass es irgendeine form von kontakt zwischen demjenigen, der die taufe vollzugen hat, und dem gegenstand gegeben hat. dementsprechend funktioniert "santa clause" als starrer bezeichnungsausdruck - ist aber keiner, weil es keinen kontakt zwischen den sprechern und "santa clause" gibt, bzw. gegeben hat.

Zitat:

Aber unterscheidet sich eine solche gründliche Analyse grundsätzlich (strukturell) von einer solchen, die bei den Eigenschaften "nass", "fließt durch Flüsse", "gefriert bei O Grad C" usw. Halt macht? Keineswegs. Denn auch diese augenscheinlichen Kriterien erfüllen ihren Zweck dort, wo sie verwendet werden.

doch. es gibt einen relevanten unterschied.
analysen, die sich auf verschiedene eigenschaften stützen -die du auch genannt hast- fördern keine notwendigen eigenschaften zu tage. dass wasser bei 0°C gefriert, naß ist etc. könnten alles eigenschaften des "narrenwassers" sein. aber, dass wasser H2O ist, ist notwendig. notwendig in dem sinne, weil es eindeutig festlegt, wann wir es mit wasser und wann wir es mit "narrenwasser" zu tun haben. es ist sozusagen "die innere struktur" des wassers selbst, die mit H2O charakterisiert wird.
nehmen wir ein trivialeres beispiel.
nehmen wir meinen schreibtisch. mein schreibtisch besteht aus holz. er ist derzeit ein wenig unaufgeräumt. er hat vier beine etc.
um nun zu sagen, dass mein schreibtisch mein schreibtisch ist, ist es kontingent, zu sagen, er sei unaufgeräumt - auch mein aufgeräumter schreibtisch wäre in dem falle noch mein schreibtisch. sägten wir ihm ein bein ab, so könnte ich immer noch berechtigter weise sagen, es sei mein schreibtisch, so wie ich jetzt hinter ihm sitze - allerdings fehlte ein bein.
wäre mein schreibtisch mein schreibtisch, wenn er so aussähe wie jetzt - allerdings aus eis gestaltet? nein. wir würden sagen, dieser schreibtisch ist nicht mein schreibtisch, er sieht lediglich so aus wie mein schreibtisch. wir können also sagen, dass es a posteriori notwendig ist für meinen schreibtisch, aus holz zu bestehen.
was dieses beispiel zeigt, ist, dass es in diesem trivialerem falle nicht notwendig ist, auf eine chemische analyse zu rekurrieren. es genügt die feststellung, mein schreibtisch ist aus dem und dem holz gemacht. es gibt eine kausalkette, die von seiner herstellung bis zu mir führt. und solange diese kausale kette nicht unterbrochen wird, zum beispiel, dass statt holz eis verwandt wird, solange ist mein schreibtisch der schreibtisch hinter dem ich gerade sitze.

Zitat:

dass diese Analyse die "letzte", "abschließende" sei - dann könnte man der Zuordnung von "Wasser" und "H2O" das Prädikat "notwendig" verleihen.

die analyse, dass wasser H2O ist, ist notwendig, um wasser unverwechselbar zu charakterisieren. eine weitere analyse würde zusätzlich noch hinreichende charakteristika benennen.
es ist ausreichend wasser so zu charakterisieren, weil diese charakterisierung die notwendige eigenschaft des wassers enthält, wenn auch nicht alle darüberhinausgehenden.

Zitat:

Oder anders gesagt: "H2O" ist ein sehr abstrakter Begriff.

wenn du mit abstrakt, wenig anschaulich meinst, gebe ich dir recht. wasser ist nicht offensichtlich H2O. genausowenig offensichtlich, wie die eigenschaft des lichts, eine elektromagnetische welle, zu sein.
erst die forschungen maxwells u.a. haben anstoß und aufSchluss darüber geben können.

Zitat:

Wie bereits angedeutet: "Wasser" ist kein Name, sondern ein Begriff mit Kriterien, die auf eine Pluralität vorkommender Entitäten gleichmaßen zutreffen.


ich spreche daher auch lieber von starren bezeichnungsausdrücken als von namen. aber sie funtionieren im prinzip wie "namen" (s.o. "wittgensteins namenstäfelchen" ).
das wesentliche was ich versucht habe herauszustellen ist, dass es sich a) bei H2O im eigentlichen sinne nicht um einen "namen" handelt, so wie wir sagen, wir nennen peter ab heute paul. H2O drückt in diesem falle die struktur des wassermoleküls aus, oder anders, es sagt, woraus wasser besteht; und b) werden die notwendigen eigenschaften eben nicht von anderen begriffen geteilt. welche substanz hat denn außer wasser noch die eigenschaft H2O zu sein? mir ist keine bekannt. und soweit wie wir der chemie vertrauen können, ist bisher noch keine flüssigkeit synthetisiert worden, die kein wasser wäre, aber dennoch H2O wäre.

es ist wichtig zu erkennen, dass wasser nicht durch eine "beschreibung" (" wasser ist dasjenige, was" nach russels theory of description) oder ein "bündel an beschreibungen" (nach der auffassung anderer, die sich an russels theorie anlehnen) charakterisiert wird, sondern, dass es eine kausalkette zwischen dem ausdruck "wasser" und der substanz wasser (i.e. H2O) gibt, die eindeutig festlegt, was wasser bezeichnet. nicht die beschreibung legt die referenz fest, sondern die kausalkette.

Zitat:

Es ist keine kognitive Leistung, jemanden "Thomas" zu nennen, sondern die Befolgung einer praktischen Vorschrift, die mit der Namensgebung (einem Sprechakt) verbindlich festgelegt wurde.

ja. zugegeben. mich so und so zu taufen ist ein performativer akt. durch diesen performativen akt wird die von mir angesprochene kausalkette initiiert.
das wir die flüssigkeit im fluß wasser taufen, ist ebenso ein performativer akt. allerdings legt erst -im falle des wassers- das ergebnis der chemischen analyse dasjenige fest, was zukünftig wasser genannt wird, und was nicht. nicht umsonst spricht der chemiker auch von einer lösung, wenn er das was wir wasser nennen charakterisieren möchte.

- mfg thomas

p.s.: ich habe leider keine zeit, meinen artikel nocheinmal gegenzulesen. ich bitte um nachsicht bei fehlern in der schreibung, bzw. grammatischen fehlern.

- II
- Eberhard am 31. Okt. 2004, 21:42 Uhr

Hallo allerseits, hallo Thomas,

worauf es mir bei dem Disput um "Wasser" ankommt ist die analytische Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Sätzen:

1. Aussagen über die Wirklichkeit (positiven bzw. empirischen Behauptungen)  und

2. Festlegungen eines Wortgebrauchs (nominale Definitionen).

Jede Erkenntnis über die Beschaffenheit der Welt setzt beide Arten von Sätzen voraus.

Positive Behauptungen können wahr oder fasch sein.

Definitionen können zweckmäßig oder unzweckmäßig sein (jedoch nicht wahr oder falsch).

Warum benötigt man Definitionen?

Wenn ich eine positive Behauptung über die Beschaffenheit der Welt mache, dann benutze ich Worte. Worte müssen eine bestimmte Bedeutung haben. Andernfalls sind sie nicht mehr sind als ein schwarzweißes Gebilde auf Papier.

Um z. B. eine bestimmte Art von Objekten bezeichnen zu können, muss ein Merkmal angegeben werden, das nur dieser Art von Objekten zukommt und das es deshalb ermöglicht, Objekte dieser Art von anderen Objekten zu unterscheiden.

Diese Aufgabe erfüllen die Definitionen. Ein Beispiel: " Ein 'Hengst' ist ein männliches Pferd."

Die Häkchen vor und hinter dem Wort 'Hengst' drücken aus, dass man über das Wort 'Hengst' spricht und nicht über das Objekt Hengst. (Diese Schreibweise empfiehlt sich übrigens auch für unsere Diskussion.) Wenn die Bedeutung der Worte "männlich" und "Pferd" bekannt ist, ist mit dieser nominalen Definition auch die Bedeutung des Wortes "Hengst" angegeben.

Erst wenn ich weiß, welche Objekte Hengste sind, kann ich positive Behauptungen über Hengste machen, indem ich möglichst viele Exemplare dieser Art von Objekten untersuche und z. B. herausfinde dass sie bis zu x Jahren alt werden können, dass sie im Unterschied zu Stuten bestimmte geschlechtsspezifische Organe haben, dass sie mit x Jahren ausgewachsen und geschlechtsreif werden und anderes mehr.

Kommen wir auf das Wasser-Beispiel zurück.

Wenn ich Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit und speziell über den Stoff Wasser machen will, dann muss ich wissen, welche Objekte mit dem Wort "Wasser" bezeichnet werden sollen, ich muss die Bedeutung des Wortes "Wasser" kennen. Dabei habe ich nicht nur eine Möglichkeit der Definition sondern mehrere, wobei sich allerdings bestimmte Definitionen als für den Erkenntnisprozess förderlich erweisen und andere nicht.

Ich könnte z. B. mit dem Wort "Wasser" diejenige Flüssigkeit bezeichnen, die sich als Regen  niederschlägt. Dies ist dann die Definition des Wortes "Wasser". Ich kann dieses Wasser dann untersuchen und weitere Eigenschaften herausfinden, die jedem so definierten Wasser zukommen: es ist durchsichtig, geschmacks- und geruchsneutral, gefriert bei Abkühlung unter 0 Grad Celsius zu Eis, 1 Liter Wasser hat ein Gewicht von 1 Kilogramm u. a. m.

Auch die chemische Zusammensetzung des Wassers kann untersucht werden. Wasser besteht aus  einer Verbindung von 2 Wasserstoffatomen und 1 Sauerstoffatom.

Dieser Satz ist hier eine Aussage über die Beschaffenheit der Realität. Dagegen wäre der Satz: "Regen besteht aus Wasser"  keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, da dies durch Definition bestimmt wurde und deshalb eine Aussage über (das Wort) "Wasser" und nicht über (das Objekt) Wasser ist.

Bei den von Thomas kritisierten Äußerungen habe ich angenommen, dass die Chemiker als "Wasser" denjenigen Stoff definieren, dessen Moleküle aus einer Verbindung von 2 Atomen Wasserstoff und 1 Atom Sauerstoff bestehen.

Anhand dieser Definition erforschen sie nun die Eigenschaften des so definierten Wassers.

Jetzt ist der Satz "Wasser ist H2O" (besser: "Das Wort 'Wasser' bezeichnet die Verbindung H2O" ) eine Festlegung des Wortgebrauchs und gilt per Setzung bzw. Konvention. Es ist aber keine Information über die Beschaffenheit der Welt. Die Chemiker könnten ohne Einbusse an Erkenntnis auf das Wort "Wasser" ganz verzichten und stattdessen immer sagen: "H2O (in flüssigem Aggregatzustand)".

Wenn ich dagegen das Wort "Wasser" definiere als die Flüssigkeit, die sich als Regen niederschlägt, so ist der Satz "Wasser ist H20" eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit.

Je nach Aufbau der Theorie kann der gleich klingende Satz also eine Definition oder eine Behauptung über die Realität sein. Er kann allerdings nicht beides zugleich sein, wie Thomas offenbar meint.

Diese Fragen sind etwas knifflig, aber ich denke, sie lassen sich klären, auch ohne allzu großen Aufwand an Spezialbegriffen und logischem Apparat.

Grüße an alle Interessierten von Eberhard aus dem herbstlichen Berlin.

- II
- Hermeneuticus am 01. Nov. 2004, 00:21 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

ich unterscheide zwischen starren bezeichnungen wie zum beispiel "wasser" und "H2O". und anderen bezeichnungen, die nicht starr sind, zum beispiel "der bundeskanzler".  
wasser ist notwendigerweise mit H2O verbunden. "der bundeskanzler" ist nicht notwendigerweise mit "gerhardt schröder" verbunden. starre bezeichnungsausdrücke bezeichnen ihren referenten und nur ihren referenten.

Dass der Ausdruck "der Bundeskanzler" keine "starre" Bezeichnung sein soll, wenn "wasser" und "H2O" es sind, leuchtet mir nicht ein. Denn so wie das Wort "Wasser" auf jede vorkommende Flüssigkeit mit den entsprechenden Eigenschaften passt - z. B. auf das Glas Wasser vor mir -, und der Ausdruck "H2O" auf jedes Molekül aus zwei Teilen Wassserstoff und einem Teil Sauerstoff, so auch das Wort "Bundeskanzler" auf jeden Inhaber dieses Amtes. Dass es mehr H2O-Moleküle gibt als Bundeskanzler, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Im Gegenteil: Man könnte meinen, dass, je weniger Referenten ein Ausdruck hat, er  umso "stabiler" sein müsste...

Also, mir ist dieser Unterschied nicht klar.

Nun behauptest Du: "Starre Bezeichnungsausdrücke bezeichnen ihren Referenten und nur ihren Referenten."
Soll das heißen, dass starrre Bezeichnungsausdrücke keinerlei Kriterien brauchen, um ihre jeweils richtigen Referenten von den vielen möglichen falschen zu unterscheiden?

Wenn jemand so einen Ausdruck zu verwenden lernt - muss man ihm dann ALLE Referenten zeigen, damit er den Ausdruck richtig verwenden kann? Oder kann man über die Bedeutung eines starren Bezeichnungsausdrucks sprechen, ohne dass gerade Referenten anwesend sind? Wenn nein: Worauf verweist dann der Ausdruck "Wasser" IN DIESEM TEXT, obwohl gerade gar kein Wasser zu sehen ist?

Wenn diese merkwürdigen Bezeichnungsausdrücke eine Bedeutung haben, über die man auch dann sprechen kann, wenn gerade keiner ihrer Referenten anwesend ist, dann verweist "Wasser" HIER UND JETZT nur auf die BEDEUTUNG des Ausdrucks "Wasser", nicht auf Wasser. Und es ist ebendiese Bedeutung, die wir UNABHÄNGIG von gegebenen Referenten kennen, die es uns zugleich ermöglicht, den Ausdruck auf vorkommende Gegenstände anzuwenden.

M.E. ist die Vorstellung eines solchen "starren Bezeichnungsausdrucks" eine Absurdität. Aber vielleicht habe ich auch nur nicht verstanden, wie ein Ausdruck NUR auf REFERENTEN verweisen kann, ohne eine von den Referenten unabhängige Bedeutung zu haben.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 01. Nov. 2004, 00:56 Uhr

hallo eberhard, hallo hermeneuticus,

ich versuche in diesem beitrag möglichst kurz auf eure beiden beiträge zu antworten.

zu eberhard:

im rückgriff auf die distinktion objektsprache/metasprache ließe sich das, was ich sage, wie folgt formulieren.

objektsprachlich: wasser besteht aus H2O
metasprachlich: 'wasser' ist der starre bezeichnungsausdruck für diejenige flüssigkeit deren charakteristikum H2O ist.

somit haben wir 2 ebenen in einem satz "wasser ist H2O" ausgedrückt.

zu hermeneuticus:

wie lernt man starre bezeichnungsausdrücke?
ich habe darauf verwiesen, dass das wesentliche der initiale taufakt ist. hierbei hat derjenige, der diesenakt durchführt in irgendeiner weise kausalen kontakt zu dem taufobjekt.

wenn wir ein elternpaar nehmen, welches sein kind bei der taufe "judas kleinschmidt" nennt, so haben die eltern kontakt zu ihrem täufling. lernen menschen später "judas kleinschmidt" kennen, so haben sie ebenfalls kontakt mit ihm. wenn sie sich später auf "judas kleinschmidt" beziehen, so tun sie das kausal.
und so weiter und so fort.
wichtig ist, dass sich der name durch den akt der taufe und die kausalkette auf den täufling bezieht. "judas kleinschmidt" ist nicht identisch mit "das kind, welches am xx.xx.xxxx. in der kirche st. maria getauft worden ist", selbst, wenn dem so war.
denn es wäre denkbar, dass das kind zum beispiel bei der taufe verwechselt worden wäre. dann wäre in dem fall nicht "judas kleinschmidt" nicht mehr "judas kleinschmidt" (also a=a ist immer noch gewahrt), sondern derjenige, den wir mit judas kleinschmidt benennen wäre jemand anderes - nämlich das vertauschte kind (es gilt hingegen a=~b).

wenn wir fragen, woraus besteht wasser, so können wir die frage mit "wasser besteht aus H2O" beantworten.
wenn wir fragen, "wer ist der bundeskanzler", so ist die antwort "gerhard schröder". zum jetzigen zeitpunkt (2004) ist gerhardt schröder mit "dem bundeskanzler".
hätten wir diese frage 1984 gestellt, so wäre gerhardt schröder nicht identisch gewesen mit "dem bundeskanzler". in dem falle hätte gerhardt schröder identisch sein müssen mit "helmut kohl".

aus dem gesagten dürfte klar sein, dass die identität die jetzt zwischen "dem bundeskanzler" und "gerhard schröder" besteht, eine a posteriori kontingente identität ist. es wäre auch denkbar, dass gerhard schröder nie bundeskanzler geworden wäre. und es wird so sein, dass er irgendwann nicht mehr bundeskanzler ist.

im bezug auf das wasser heißt das, dass es nicht von vorn herein gesagt war, dass wasser aus H2O besteht.
es hätte auch eine andere strukturformel haben können. daher ist es a priori kontingent, dass wasser H2O ist.
da wir nun aber herausgefunden haben, dass wasser die strukturformel H2O besitzt kennen wir die strukturformel des wassers. wir wissen, dass sie H2O und nicht H2SO4 ist. dass wasser nun H2O ist, macht diese eigenschaft zu einer notwendigen eigenschaft. um herauszufinden, ob eine flüssigkeit wasser enthält, müssen wir sie auf H2O untersuchen. enthält sie H2O, so sagen wir, sie enthält wasser.
wenn also dein teewasser wasser enthält, untersuchen wir, ob es H2O enthält. wenn ja, ist in deinem teewasser wasser enthalten. finden wir stattdessen H2SO4, würde ich dir raten, deinen tee nicht zu trinken.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 01. Nov. 2004, 09:07 Uhr

Hallo Thomas,

Du schreibst: "im rückgriff auf die distinktion objektsprache/metasprache ließe sich das, was ich sage, wie folgt formulieren.
objektsprachlich: wasser besteht aus H2O
metasprachlich: 'wasser' ist der starre bezeichnungsausdruck für diejenige flüssigkeit deren charakteristikum H2O ist.
somit haben wir 2 ebenen in einem satz "wasser ist H2O" ausgedrückt."

Soweit Deine Position. Ich stelle mir nun einmal folgendes Gespräch vor:

Peter fragt Thomas: "Woraus besteht Wasser, Thomas?"

Thomas: "Wasser besteht aus einer Verbindung von 2 Atomen Wasserstoff mit 1 Atom Sauerstoff."

Peter fragt nach: "Und woher weißt Du das, Thomas?"

Thomas: "Das haben Chemiker bei der Elektrolyse von Wasser herausgefunden."

Peter fragt nochmal nach: "Aber woher wussten denn die Chemiker, die das herausgefunden haben, dass es sich bei der Flüssigkeit, die sie untersuchten, um Wasser handelte?"

(Tja, wie geht das Gespräch weiter? Wie wird Thomas antworten? Vielleicht so: ?)

Thomas: "Die Chemiker wussten, dass es sich bei der von Ihnen untersuchten Flüssigkeit um Wasser handelt, weil sie das Charakteristikum für 'Wasser' kannten, nämlich H2O zu sein, und weil die Flüssigkeit, die sie untersuchen wollten, dieses Charakteristikum besaß."

Peter ist verwundert: "Aber wenn sie bereits vor Beginn der Elektrolyse das Ergebnis wussten, nämlich dass die von ihnen untersuchte Flüssigkeit das Charakteristikum H2O besaß, dann gab es doch nichts mehr herauszufinden!?!?"

Wie hättest Du auf die Nachfrage von Peter geantwortet, Thomas?

Oder allgemeiner gefragt:

Hältst Du die Ansicht für richtig, dass man zwischen Sätzen, die die Bedeutung von Worten festlegen (Definitionen), und Sätzen, die etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagen (positiven Aussagen bzw. Behauptungen), unterscheiden sollte?

Oder bist Du der Ansicht, dass es sich bei dem metasprachlichen Satz: " 'Wasser' ist H2O" (Definition) und dem objektsprachlichen Satz: "Wasser ist H2O" (positive Aussage bzw. Behauptung) um denselben Satz handelt?

Anders gefragt: Bist Du der Meinung, dass ein und derselbe Satz im Rahmen ein und derselben Theorie Definition und Behauptung zugleich sein kann?

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 01. Nov. 2004, 11:08 Uhr

hallo eberhardt,

überspitzt könnte man deinen letzten beitrag auch so pointieren: wenn man schon gewußt hätte, dass wasser H2O ist, warum bedarf es dann noch einer analyse.
das ist wohl nicht der fall gewesen.
man wird wohl vor der analyse verschiedene (vorkommen) flüssigkeiten mit "wasser" bezeichnet haben. wasser wird man wohl die flüssigkeit in flüssen ebenso genannt haben wie die flüssigkeit in brunnen und tümpeln.

gehen wir einmal von einem trivialen fall aus:

wir haben einen chemiker A und einen chemiker B.
A wohnt in AStadt und B in Bstadt.
beide städte sind durch einen fluß verbunden, durch den "wasser" fließt.
beide städte verfügen über einen brunnen, indem sich aber entgegen der vermutung, dass es sich um "wasser" handelt, "narrenwasser" befindet.
A geht zu seinem tümpel, nimmt eine probe und geht in sein labor, während B eine probe aus dem fluß nimmt.

beide gut ausgebildet, mit den methoden ihres fachs bestens vertraut, beginnen nun eine tagelange analyse dessen, was sie "wasser" nennen.
eine woche später stehen ihre resultate fest.
sie telefonieren und tauschen sich über ihre ergebnisse aus.
A wird sagen, die strukturformel von wasser (objektsprache) laute XXXXX, während B berichtet, dass das was er untersucht habe, YYY sei. beide wissen, dass wenn es sich bei beiden flüssigkeiten um wasser handelt, seine strukturformel nicht XXXXX und YYY zugleich sein kann. dementsprechend wird man sich darauf einigen müssen, welches der beiden nun fortan "wasser" (metasprachlich) genannt werden wird.
und man wird dann entsprechend sagen, "wasser" (metasprachlich) sei die flüssigkeit mit der strukturformel YYY und das andere wird man dann "narrenwasser" vice versa nennen.

der starre bezeichnungsausdruck ist nur dann sinnvoll, wenn wir mit gleichem namen auch gleiche dinge benennen. "mein tisch" ist ein starrer bezeichnungsausdruck für meinen tisch. wenn mein tisch, beispielsweise aus einem anderen material gemacht wäre, als er es derzeit ist, könnte ich "mein tisch" nicht in dem sinne verwenden, indem ich ihn jetzt verwende. es wäre ein anderer tisch - auch, wenn er letztlich mir gehörte.

wie ich auch schon bemerkt habe, gibt es neben den starren bezeichnungen auch andere, wie zum beispiel "der bundeskanzler", welcher nicht immer mit dem selben träger verbunden ist.

zusammenfassend: wir haben, wie du schon richtig bemerkt hast, eine benennung für flüssigkeiten - z. B. "wasser". die analyse klärt uns in dem fall auf, ob wir es in allen -untersuchten- fällen auch mit wasser, also der gleichen flüssigkeit- zu tun haben. dementsprechend wird unser sprachgebrauch angepaßt. das entspricht der metasprachlichen seite.
der objektsprachlichen seite entspricht das ergebnis der analyse. wir haben in unserem obigen beispiel XXXXX und YYY als ergebnis. folglich ist die aussage, wasser sei entweder XXXXX oder YYY aber nicht beides, eine objektsprachliche aussage. erst nachdem man den sprachgebrauch angepaßt hat, indem man sich entschied YYY "wasser" zu nennen und das andere, XXXXX, "narrenwasser" kommt man in die situation eines scheinbaren zirkels - wo man mit der aussage "wasser" ist "H2O" lediglich die definition von wasser wiedergibt - man darf das ergebnis der analyse, die die aussage erst möglich machte nicht unter den tisch fallen lassen. es ist ja nicht so, dass sich chemiker im labor zusammensetzen, und ausschließlich stoffe synthetisieren, um ihnen anschließend namen zu geben.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 01. Nov. 2004, 12:15 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

wenn ja, ist in deinem teewasser wasser enthalten. finden wir stattdessen H2SO4, würde ich dir raten, deinen tee nicht zu trinken.


Gottlob brauche ich keine chemische Analyse, um Wasser sicher von Schwefelsäure unterscheiden zu können. Dass mein sonst zart duftender "Temple of Heaven" plötzlich nach faulen Eiern stinkt, würde mich auch so schon etwas misstrauisch machen...  [cheesy] (Dabei fällt mir ein, dass ich noch nie wirklich faule Eier gerochen habe.... Wieso weiß ich, dass H2SO4 danach riecht?)

Und schon sind wir beim Thema...

Ein Taufakt bezieht sich gewöhnlich sich nur auf (hinreichend unterscheidbare) Individuen. Und gewöhnlich ist der "Täufling" dabei anwesend; aber es ist vorstellbar, dass man auch abwesende Individuen tauft (schließlich verleiht die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte auch abwesenden Individuen eine Versicherungsnummer).

Nehmen wir aber an, dass ein Vater für seinen vierjährigen Sohn eine "Taufe" des Wassers vornimmt. Er holt einen Krug Wasser, lässt das Wasser darin ein bisschen schwappen, verschüttet ein bisschen, lässt den Sohnemann daran nippen usw. und sagt dann "Ich taufe dieses Zeugs nun 'Wasser'!" Oder abgekürzt: "Dies ist Wasser." Dabei zeigt er sicherheitshalber noch mit dem Finger in den Krug.

Schön und gut. Nun fragt sich aber, ob der Vater nur DIESES Wasser im Krug getauft oder ob er zugleich JEDES Wasser auf der weiten Welt mit erfasst hat.

Am nächsten Tag steht nämlich der Sohn OHNE seinen taufenden Vater vor einer noch ungetauften Regenpfütze. Woraus, wird er wohl glauben, besteht nun diese? Aus Wasser?
Wenn ja - woher weiß er das? Woher hätte er die Kompetenz, nun seinerseits einen "Taufakt" vorzunehmen und kühn zu sagen: "Dies ist Wasser" ?


Ein anderes Beispiel.

Eine Weltmacht hat auf einen Streich sieben Staaten erobert. Der Bequemlichkeit halber zieht die Weltmacht ihre demokratische Standardverfassung für eroberte Staaten aus der Schublade und erlegt sie auch diesen sieben frisch eroberten Staaten auf. Weil sie aber den Bevölkerungen jeweils ihre eigenen Sprachgewohnheiten lässt, heißt das Staatsoberhaupt in jedem Staat anders. In v heißt es "Bundeskanzler", in w "Landeshauptmann", in x "Chancelor", in y "El Rey", in z "Duce"...

Da die sieben Staatsoberhäupter exakt dieselben Pflichten, Funktionen und Kompetenzen haben, sind sie also in dieser Hinsicht "dieselben". Aber ihr Amt ist jeweils anders "getauft". Und, überflüssig zu sagen, auch die jeweiligen Amtsinhaber sind sehr verschiedene Individuen mit verschiedenen Taufnamen.

Meine Fragen:
Welche Ausdrücke sind hier "starre Bezeichnungsausdrücke" und warum: die Bezeichnung der Weltmacht für dasselbe Amt (" Staatsoberhaupt" ), die unterschiedlichen Bezeichnungen für dieses Amt in den verschiedenen Staaten, die Namen der jeweiligen Amtsinhaber?
Kann man Ämter, die von wechselnden empirischen Individuen, den Amtsinhabern, ausgeübt werden, genauso "taufen" wie Individuen?
Hat das Wort "Bundeskanzler" nur dann einen Referenten, wenn es gerade einen Amtsinhaber gibt? Oder auch dann, wenn die Stelle aus irgendwelchen Gründen gerade vakant ist?

Fragen über Fragen!

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 01. Nov. 2004, 13:07 Uhr

Hallo Thomas!

Und noch ein Beispiel...

Ich sitze mit einem befreundeten Amerikaner, dem ich ein wenig Deutsch beibringe, zusammen am Tisch. Da ergreife ich den schwarzen Federhalter, tippe mit dem Zeigefinger darauf und sage: "Schwarz! Schwarz!"
Denkt mein amerikanischer Freund. "Jeee! So my fat neighbor way home - Mr. Brinsley Schwartz - is named after a fountain-pen! My wife will roll on the floor with laughter when I tell her that..."

Was ist passiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich habe doch brav auf einen Referenten des Ausdrucks "schwarz" gezeigt. Wieso glaubt mein Freund, ich hätte auf den Federhalter gezeigt??

Gruß
H.

- II
- Eberhard am 01. Nov. 2004, 16:30 Uhr

Hallo Thomas,

ich weiß nicht recht, ob ich Deine letzten Ausführungen als Antworten auf die Fragen am Ende meines letzten Beitrags betrachten soll.

Mit Deinem Beispiel habe ich Probleme, da Du in Deiner Schreibweise nicht zu erkennen gibst, ob Du nun das Wort "Wasser" oder das Objekt Wasser meinst. Deshalb wiederhole ich meinen Vorschlag, dass man dann, wenn man nicht das Objekt sondern das Wort meint, dieses in Häkchen setzt.

So schreibst Du: <<beide städte sind durch einen fluß verbunden, durch den "wasser" fließt.>> und weiter unten: << beide … beginnen nun eine tagelange analyse dessen, was sie "wasser" nennen.>>).

Ich kann dem nur entnehmen, dass es für A und B eine von der Formel H2O unabhängige Bedeutung des Wortes "Wasser" gab.

Ich kann deshalb noch keine überzeugenden Argumente für Deine Ansicht entdecken, dass es falsch ist zu sagen:

<<Wenn es sich bei dem Satz "Wasser ist H2O" um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handeln soll, dann müsste es eine von diesem Satz unabhängige Definition des Wortes "Wasser" geben, in der die Formel H2O nicht vorkommt.>>

Ich sehe nicht, wo der Fehler – oder gar Doppelfehler wie Du schreibst – dabei liegt.

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 01. Nov. 2004, 19:14 Uhr

hallo eberhardt, hallo hermeneuticus

ich hoffe ihr werdet nichts dagegen einzuwenden haben, dass ich die beiträge -der einfachheit halber- in umgekehrter reihenfolge beantworte. ich denke, dass ich das in umgekehrter reihenfolge besser abarbeiten kann.
also zunächst zu eberhardt:

Zitat:

beide städte sind durch einen fluß verbunden, durch den "wasser" fließt.

gemeint ist, durch beide städte fließt ein fluß, dessen flüssigkeit "wasser" genannt wird.

Zitat:

beide städte verfügen über einen brunnen, indem sich aber entgegen der vermutung, dass es sich um "wasser" handelt, "narrenwasser" befindet.


in beiden städten befindet sich ein brunnen, dessen flüssigkeit "wasser" genannt wird - die wir aber später, nach erfolgter analyse "narrenwasser" nennen werden.
voraussetzung: beide arten von flüssigkeiten werden "wasser" genannt. beide flüssigkeiten werden analysiert. und aufgrund des unterschiedlichen analyseergebnisses wird die eine anschließend (weiterhin) "wasser", die andere "narrenwasser" genannt.

ich denke die scheinbaren verwirrungen dürften damit geklärt sein. "wasser" ist definiert als "H2O" ist die definition des sprachgebrauchs.
wasser ist H2O ist die aussage über die beschaffenheit von wasser, und somit eine aussage über die welt.


Zitat:

Wenn es sich bei dem Satz "Wasser ist H2O" um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handeln soll, dann müsste es eine von diesem Satz unabhängige Definition des Wortes "Wasser" geben, in der die Formel H2O nicht vorkommt.



dass wasser H2O ist, wußten wir erst, nachdem wir die flüssigkeit analysiert haben. wir hätten H2O synthetisieren können ohne zu wissen, dass es wasser ist. erst die analyse hat es so gezeigt.
es handelt sich um eine identitätsaussage der form a=b. und nicht, wie du, eberhard, nahelegst a:=b. (a ist definitionsgemäß identisch mit b).

nun zu hermeneuticus,

Zitat:

aber es ist vorstellbar, dass man auch abwesende Individuen tauft (schließlich verleiht die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte auch abwesenden Individuen eine Versicherungsnummer).


aber die BfA verteilt keine versicherungsnummer an menschen die es nicht gibt. zwar ließe sich ein fall einer solchen zuteilung fingieren, indem eine nummer für "alan kohol" verteilt wird. wenn es diesen menschen aber nicht gibt, werden wir nicht sagen, sie sei alan kohol zugeteilt worden, wir werden sagen, dass der name irrtümlich mit einer versicherungsnummer versehen worden ist; wir werden nicht sagen die person alan kohol hat eine versicherungsnummer erhalten und die person alan kohol ist nicht existent. wir hätten es mit einem leeren namen, einem namen ohne referenten zu tun.
die frage ist nicht, ob derjenige, auf den bezug genommen wird, gerade anwesend ist, sondern, dass sich eine kausalkette bis zum träger des namens bilden läßt. wenn es sich um einen echten namen handelt, dem die BfA eine nummer zuteilt, läßt sich eine kette von dem versicherungsnehmer bis hin zu BfA verfolgen. es muss irgend eine form von kontakt bestehen.
und so sieht die realität auch aus. die BfA denkt sich ja keine namen aus und ordnet diesen namen willkürlich nummern zu, um anschließend zu schauen, ob es einen träger für diesen namen wirklich gibt. das mag zwar erheiternd sein, ist aber nicht die übliche vorgehensweise.


Zitat:

Nun fragt sich aber, ob der Vater nur DIESES Wasser im Krug getauft oder ob er zugleich JEDES Wasser auf der weiten Welt mit erfasst hat.


wenn wir auf das wasser/H2O beispiel zurückkommen, so hat die analyse einer substanz, die "wasser" genannt worden ist, ergeben, dass sie aus den bestandteilen H2O besteht. fortan hieß diese flüssigkeit der einfachheit halber "wasser". sie war quasi das muster von wasser. ob nun wasser im fluß auch zu recht den namen "wasser" trägt, kann eine chemische analyse belegen oder widerlegen.

vielleicht wird es einfacher, wenn ich es etwas abstrakt formuliere: "X" ist der arbiträre name einer substanz W. die chemische analyse von W ergab, dass W nach schema S aufgebaut ist. der einfachheit halber legte man nun fest, dass jede flüssigkeit die nach schema S aufgebaut ist, den namen "X" behalten darf - andere, die nach schema T aufgebaut sind, und vielleicht zuvor ebenfalls mit "X" benannt worden sind, erhalten einen neuen namen.


Zitat:

Welche Ausdrücke sind hier "starre Bezeichnungsausdrücke" und warum: die Bezeichnung der Weltmacht für dasselbe Amt (" Staatsoberhaupt" ), die unterschiedlichen Bezeichnungen für dieses Amt in den verschiedenen Staaten, die Namen der jeweiligen Amtsinhaber?  
Kann man Ämter, die von wechselnden empirischen Individuen, den Amtsinhabern, ausgeübt werden, genauso "taufen" wie Individuen?  
Hat das Wort "Bundeskanzler" nur dann einen Referenten, wenn es gerade einen Amtsinhaber gibt? Oder auch dann, wenn die Stelle aus irgendwelchen Gründen gerade vakant ist?


keiner in deinem beispiel aufgeführten ausdrücke ist ein starrer bezeichnungsausdruck.
einfaches beispiel: "der bundeskanzler aß gerne currywurst".
ist das eine aussage über gehrhardt schröder? hat er seinen geschmack verändert und mag nun keine currywurst mehr?
oder ist es eine aussage über konrad adenauer, der als kölner auch der currywurst zugetan war?
die aussage "gerhard schröder aß gerne currywurst" ist in dem falle eindeutig. "gerhard schröder" bezieht sich auf gerhardt schröder.


Zitat:

Ich sitze mit einem befreundeten Amerikaner, dem ich ein wenig Deutsch beibringe, zusammen am Tisch. Da ergreife ich den schwarzen Federhalter, tippe mit dem Zeigefinger darauf und sage: "Schwarz! Schwarz!"  
Denkt mein amerikanischer Freund. "Jeee! So my fat neighbor way home - Mr. Brinsley Schwartz - is named after a fountain-pen! My wife will roll on the floor with laughter when I tell her that..."  

Was ist passiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich habe doch brav auf einen Referenten des Ausdrucks "schwarz" gezeigt. Wieso glaubt mein Freund, ich hätte auf den Federhalter gezeigt??


nein, dein tischnachbar hat nicht verstanden, was du ihm gezeigt hast.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 01. Nov. 2004, 23:32 Uhr

Hallo Thomas!

Die Geschichte mit der Namengebung und der "Kausalkette" lasse ich im Moment auf sich beruhen; sie scheint mir jedenfalls ein merkwürdiges Verständnis von "Kausalität" zugrundezulegen. Mir geht es immer noch um die Frage, inwiefern "Wasser" oder ähnliche Bezeichnungen "starre Bezeichnungsausdrücke" sein und NUR ihren Referenten bezeichnen können.

Deine Antwort auf mein Beispiel mit Vater und Sohn geht an dieser Fragestellung vorbei.
Von H2O ist dort überhaupt nicht die Rede. Wir sehen nur, dass der Vater einer gewissen Flüssigkeit den beliebigen Namen "Wasser" gibt und der Sohn am nächsten Tag fähig ist, diesen Namen auch auf eine Regenpfütze anzuwenden. (Wenn Du es nötig findest, können wir festlegen, dass die Szene im Jahre 987 v.Chr. stattgefunden hat - also am Horizont zeichnete sich noch keine moderne Chemie ab.)

Meine Frage betrifft ganz einfach die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass der Vater eine bestimmte Flüssigkeit im Krug "Wasser" tauft, und der Sohn, der diesen Namen an einem Einzelfall gelernt hat, diesen Namen eigenständig auf eine Flüssigkeit anwendet, die sich ganz woanders befindet und auch sonst erhebliche Unterschiede zum Wasser im Krug aufweist.

Meine These: Wäre "Wasser" ein Eigenname, der nur einen Referenten und nichts sonst bezeichnet, könnte kein Mensch diesen Eigennamen selbständig (und vor allem: zutreffend!) auf Referenten anwenden, die mit dem ursprünglich getauften nicht numerisch identisch sind.
Positiv gesagt: Wasser im Krug und Regenpfütze sind verschiedene Anwendungsfälle für das PRÄDIKAT Wasser, das von vornherein für eine Pluralität von verschiedenen Anwendungsfällen vorgesehen ist - auch solche in der Zukunft, die noch kein Mensch kennen kann.


Dieser Sachverhalt wiederholt sich natürlich auch bei der Bezeichnung "H2O". Denn genau genommen refereriert dieser Ausdruck ja auf eine unabsehbare Pluralität von Molekülen mit einer gleichen Struktur. Wir wissen aber, dass es keine zwei Dinge auf der Welt gibt, die völlig identisch sind, und seien sie - für uns - nur noch durch ihre Lage in Raum und Zeit unterscheidbar. Daher kann sich die Bezeichnung "H2O" nur auf "Kerneigenschaften" oder die "wesentlichen" Eigenschaften beziehen, d. h. bei jedem einzelnen Molekül nur auf eine AUSWAHL aus seinen sämtlichen Eigenschaften.

Eine solche AUSWAHL EINES KONSTANTEN MOMENTS an einer PLURALITÄT VON SONST VERSCHIEDENEN FÄLLEN aber ist, was wir gemeinhin ein "Prädikat" nennen. Ein Eigenname, der wirklich nur einen Referenten bezeichnet, ist ganz offensichtlich von anderer Struktur. Prädikate sind eo ipso übertragbar. Eigennamen verlieren ihren Sinn, wenn sie übertragen werden:  

Sokrates ist ein Mensch, Platon ist ein Mensch, Thomas ist ein Mensch.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 02. Nov. 2004, 08:20 Uhr

hallo hermeneuticus,

ein weiteres beispiel für einen starren bezeichnungsausdruck ist "mein vater" bzw. "meine mutter". es gibt nur eine person, die wir mit diesem namen korrekt benennen. nämlich meinen jeweiligen vater und meine jeweilige mutter.
denken wir uns den fall, dass wir ein kind haben, welches nicht bei seinem vater aufwächst, so sagen wir zwar im allgemeinen -das kind ebenso-, dass derjenige, der dann mit der mutter liiert ist, der "vater" des kindes sei. aber mit "vater" benennen wir nicht genau diesen menschen, sondern den vater des kindes. man würde den neuen lebensgefährten dann den "stief-vater" des kindes nennen.

dein beispiel, als der vater dem jungen eine flüssigkeit zeigt, und sie auf den namen "wasser" tauft, ist zwar ein taufakt, der genau diese flüssigkeit mit dem namen "wasser" versieht. aber es gibt noch keinen zwingenden grund, das wasser in der regenpfütze ebenfalls wasser zu nennen. stellen wir uns vor, der vater habe aus irgendeinemgrund versehentlich "narrenwasser" mit dem namen "wasser" versehen, so wäre die ableitung des sohnes, die flüssigkeit der regenpfütze mit "wasser" zu bezeichnen falsch.
wir erinnern uns an die gepflogenheiten bei einer taufe: ein name, wird einem menschen zugeordnet.
wir hätten -wäre dein beispiel richtig- einen namen für mindestens zwei flüssigkeiten: nämlich für "narrenwasser" und "wasser". "wasser" ist erst dann ein starrer bezeichnungsausdruck, wenn man weiß, dass es die essentielle struktur von H2O hat, und sie so unverwechselbar identifiziert werden kann.

wenn also der sohnemann überprüfen will, ob es sich bei regenwasser um wasser handelt, muss er zunächst die struktur dessen, was sein vater getauft hat kennen, und darüberhinaus muss er die struktur der flüssigkeit der regenpfütze kennen, um dann vergleichen zu können. anschließend wird er sagen können, dass der satz "regenwasser ist wasser" wahr ist.

denken wir an mein beispiel der beiden chemiker in Astadt und Bstadt. beide nennen die flüssigkeit in ihrem brunnen "wasser" und die flüssigkeit, die in dem fluß, welcher beide städte verbindet, fließt "wasser".
im falle des brunnenwassers handelt es sich aber um eine andere flüssigkeit als die, welche im fluß fließt.
beide werden berechtigter weise -weil sie es evtl. so gelernt haben- davon sprechen, dass es sich in beiden fällen um "wasser" handelt. die benennung ist zwar ihren sitten entsprechend korrekt, aber sie entspricht nicht den tatsachen. der satz "das da ist wasser" ist in einem falle richtig und im anderen falle falsch.

Zitat:

Wasser im Krug und Regenpfütze sind verschiedene Anwendungsfälle für das PRÄDIKAT Wasser, das von vornherein für eine Pluralität von verschiedenen Anwendungsfällen vorgesehen ist - auch solche in der Zukunft, die noch kein Mensch kennen kann.

das ist so nicht richtig.
sicher, wir würden sagen, dass man mit dem namen "wasser" viele flüssigkeiten bezeichnen kann; aber weshalb sollte ein wort
Zitat:

von vornherein für eine Pluralität von verschiedenen Anwendungsfällen vorgesehen

sein? denken wir uns folgendes. es gibt im gesamten weltall nur ein einziges vorkommen von narrenwasser. chemiker haben herausgefunden, dass dieses narrenwasser strukturell verschieden von unserem gewöhnlichen wasser ist. fortan werden sie es "wasser2" nennen. wir haben die zuordnung eines namens, zu einer substanz. sie haben ein wort für einen anwendungsfall erschaffen. wie können sie vorhersehen, ob es noch andere anwendungsfälle gibt? und würde man nicht sagen, wenn sie wüßten es gebe nur einen einzigen anwendungsfall, dass es falsch wäre zu behaupten, aber das wort ist auf eine pluralität anwendbar? wenn es nur ein einziges vorkommen von narrenwasser gebe, ist es bedeutungslos zu sagen, aber das wort wäre auf eine pluralität anwendbar - wenn es denn eine gäbe.
wir müssen sagen, wir haben bisher einen fall von "wasser2" gefunden, ob es eine "pluralität von anwendungen gibt" muss sich erst noch zeigen.


Zitat:

Wir wissen aber, dass es keine zwei Dinge auf der Welt gibt, die völlig identisch sind, und seien sie - für uns - nur noch durch ihre Lage in Raum und Zeit unterscheidbar.


was ist der unterschied zwischen einem H2O molekül an der raumzeitposition (x,y,z,t) und einem an der raumzeitposition (x',y',z',t')? es wäre unsinnig zu behaupten, in einem falle handele es sich um wasser, im anderen falle um wasser2. wie sollten wir wissen, um was für einen stoff es sich handelt? wir hätten ein unendlich langes periodensystem, weil mit jeder änderung eines bewegten moleküls zum beispiel von x nach x' die bezeichnung des elements eine andere sein müßte, obwohl sich das molekül nur um /\x verschoben hat.
stelle dir deinen eßtisch vor. schiebe ihn 10 cm nach links. ist es noch dein eßtisch? ja, denn kausal bezeichnest du den gleichen eßtisch wie vorhin, nur, dass du seine position verändert hast.


Zitat:

Prädikate sind eo ipso übertragbar. Eigennamen verlieren ihren Sinn, wenn sie übertragen werden:


ja. man kann jeden gegenstand mit jedem beliebigen namen benennen, zum beispiel einen tisch mit "stuhl". das bereitet uns keine probleme. wir erinnern uns an -ich glaube es war- bichsels kurzgeschichte "ein tisch ist ein tisch".
denken wir aber an den fall des einzigen vorkommens von narrenwasser. einem zweiten gegenstand diesen namen geben, heißt, den namen nicht richtig zu gebrauchen. oder narrenwasser "wasser" zu nennen, heißt den namen "wasser" nicht richtig zu gebrauchen.
wenn wir einmal "wasser" als "H2O" definiert haben, also herausgefunden haben, dass eine substanz, die zuvor "wasser" genannt worden ist, H2O enthält, und fortan alle flüssigkeiten, die H2O enthalten "wasser" nennen werden, können wir nicht sagen, dass narrenwasser, das eine andere strukturformel besitzt, wasser sei. wir würden es falsch benennen.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 02. Nov. 2004, 10:31 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

" wasser" ist erst dann ein starrer bezeichnungsausdruck, wenn man weiß, dass es die essentielle struktur von H2O hat, und sie so unverwechselbar identifiziert werden kann.

Die "essentielle Struktur" von Wasser IST also H2O? Dann erkennt also die Chemie das Wesen des Wassers an und für sich...

Hier befindest Du Dich mit der Theorie der "starren Bezeichnungsausdrücke" auf einem vorkantischen, also alt-metaphysischen Reflexionsstand der Erkenntnistheorie. Genau das zu zeigen, war meine Absicht.

Wenn das "Wesen" des Wassers irgendwo abgeschlossen - an und für sich - existiert, dann besteht menschliche Erkenntnis in der Tat nur darin, es korrekt abzubilden. Der Chemie scheint das also immer noch zu gelingen...

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 02. Nov. 2004, 13:12 Uhr

Hallo Thomas,

hier noch eine Ergänzung.

Meine These im vorletzten Beitrag lautete:

Zitat:

Wäre "Wasser" ein Eigenname, der nur einen Referenten und nichts sonst bezeichnet, könnte kein Mensch diesen Eigennamen selbständig (und vor allem: zutreffend!) auf Referenten anwenden, die mit dem ursprünglich getauften nicht numerisch identisch sind.

Wenn es, wie Du behauptest, nur eine richtige Bezeichnung für Wasser gibt - nämlich die chemische, die auf der chemischen Analyse beruht -, dann wäre kein Nicht-Chemiker kompetent, eine kognitive Leistung zu erbringen, indem er einen gelernten Ausdruck auf einen ihm bis dahin unbekannten Fall anwendet. Alle lebensweltlichen Kognitionen waren vor der modernen Chemie und sind seither nur Wischi-Waschi, also Schein-Erkenntnisse.
Und so wie es eine autoritative praktische Vorschrift ist, einen als "Thomas" getauften Menschen immer "Thomas" zu nennen, so erhalten also alle Nicht-Chemiker von den Chemikern die autoritative Anweisung, die "einzig richtige" (weil die Wirklichkeit, wie sie definitiv ist, defnitiv wiedergebende) Bezeichnung für Wasser zu verwenden. Ihnen wird also jede kognitive Eigenständigkeit in puncto Wasser genommen.

Wenn es so wäre - wetten, dass den Chemikern, die bestimmt auch in Deinem Weltbild noch eigenständige Erkenntnisleistungen erbringen, bald der Nachwuchs ausgehen würde?

Die kognitive Entmündigung der Nicht-Experten, die nur noch Eigennamen nach Vorschrift für die Dinge in der Welt gebrauchen, zeigt sich auch daran, dass Eigennamen fast keine Mitteilung über die Beschaffenheit ihrer Träger vermitteln.
Wenn ich weiß, dass jemand "Thomas" heißt und so genannt werden soll, weiß ich nur, dass er ein männliches Individuum ist (er könnte auch ein Hund oder ein Schwein sein).  
Wenn ich weiß, dass jemand als "Mensch" bezeichnet wird, weiß ich schon eine Menge über die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und mir.  
Kann aber nur eine naturwissenschaftliche Anthropologie wissen, was DER Mensch ist, dann ist mein Wissen über mein und jedermanns Mensch-Sein nur Scheinwissen. Ich bin hinsichtlich meiner Selbsterfahrung und meiner eigenständigen kommunikativen Erfahrungen entmündigt. Wie schon weiter oben gesagt: Die Welt unserer Erfahrung wird dann zu einer freundlich (oder bloß bequem) von den Experten geduldeten Pfuscherei... "Lassen wir sie ruhig weiter 'Wasser' sagen, die Armen, die da nicht wissen, was sie tun und sagen..."

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 02. Nov. 2004, 15:15 Uhr

hallo hermeneuticus,


Zitat:

Hier befindest Du Dich mit der Theorie der "starren Bezeichnungsausdrücke" auf einem vorkantischen, also alt-metaphysischen Reflexionsstand der Erkenntnistheorie. Genau das zu zeigen, war meine Absicht.

was ist ein alt-metaphysischer reflexionszustand?

Zitat:

Dann erkennt also die Chemie das Wesen des Wassers an und für sich...

was heißt "wesen des wassers an und für sich" ? ich weiß nicht, wovon du sprichst. was ist ein wesen an sich? wenn wir danach fragen: "woraus besteht wasser?", so ist die antwort "H2O". was ein wesen an sich ist, weiß ich nicht.

wer den ausdruck "wasser" korrekt verwenden will, muss wissen, was wasser ist.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 02. Nov. 2004, 16:56 Uhr

Hallo Thomas!

Mit "alt-metaphysisch" meine ich die Metaphysik vor Kant, die das Seiende als das fertig "Gegebene" voraussetzt. Metaphysik in diesem alten Sinne ist also primär Ontologie - Wissenschaft vom Sein des Seienden. Im Rahmen einer solchen Ontologie folgt die Erkenntnistheorie dem Muster der "Abbildung" oder "Korrespondenz" (Erkenntnisse bilden das Gegebene ab bzw. "entsprechen" ihm modellartig).

Auch nach Kant sind Metaphysiken möglich, aber nur unter der Bedingung, dass es sich um historisch-perspektivische ENTWÜRFE handelt, die auf bestimmten methodischen Voraussetzungen basieren und deren Geltungsansprüche durch diese Voraussetzungen begrenzt sind. Die Gegenstände solcher Metaphsiken werden also durch ihre grundlegenden Kategorien "konstituiert".
So ist etwa A.N. Whiteheads Buch "Prozess und Realität" ein solcher metaphysischer Entwurf. Auch Einzelwissenschaften oder wissenschaftliche Disziplinen können eine (mehr oder weniger explizite) Metaphysik/Ontologie entwerfen. So gibt es etwa in Wolfgang Horns Welt nur Quarks, bei Niklas Luhmann nur Systeme unterschiedlicher Differenzierung usw.  


Zur Erläuterung des Ausdrucks "Wesen an und für sich" : Das ist eine deutsche Übersetzung von griech. "ousia" (bei Aristoteles auch: "to ti än einei" ) und lat. "essentia" bzw. "substantia". Buchstäblich kann man "essentia" als "Seiendheit" übersetzen. Es handelt sich um die Substantivierung des Partizips Präsens von "esse" bzw. "sein".

Wenn man im Hinterkopf hat, dass das "Wesen" eines bestimmten, empirischen Gewässers aus den invarianten "Eigenschaften" besteht, die ALLEN Gewässern gemein SIND, so wird deutlich, dass die individuellen, varianten, vergänglichen "Eigenschaften" empirischer Gewässer nicht "wirklich seiend" sind. Unter dieser Voraussetzung macht es Sinn, das "Wesen" als die "Seiendheit" des Wassers anzusprechen. Im "Wesen" findet sich zusammengefasst, was Wasser-Sein "an und für sich" ist, also - in Deiner Fassung - seine "essentielle Struktur", die von der Chemie als "H2O" abschließend identifiziert wird. "An sich" - damit wird angedeutet, dass das Wesen unabhängig von seiner Erkenntnis durch endliche Wesen besteht. "Für sich" deutet an, dass es nicht in seiner Natur liegt, für anderes da zu sein (wie das bei der Technik der Fall ist).
Und selbstverständlich ist es das "Wesen" selbst, das sich spezifiziert; nicht etwa wird es durch die begrenzte Erkenntnisleistung eines begrenzten Geistes spezifiziert. In welchem "Relativismus" verkäme es da!!

Gruß
H.

- II
- Eberhard am 02. Nov. 2004, 18:04 Uhr

Hallo Thomas, hallo Hermeneuticus,

ich habe den Eindruck, dass wir etwas aus den Fallstricken der Semantik heraus und wieder näher an die Wahrheitsproblematik kommen sollten. Wahrscheinlich sind unsere Positionen gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es den Anschein hat.

Ich will deshalb einmal einige These formulieren, um zu fragen, ob wir uns darauf einigen könnten.

1. Dasselbe Wort kann verschiedene Bedeutungen haben.

2. Deshalb können auch Sätze, die aus denselben Wörtern bestehen, verschiedene Bedeutungen haben.

3. Anders ausgedrückt: Derselbe Satz kann verschiedenen Sprachen angehören und jeweils Unterschiedliches bedeuten.

4. Die Zuweisung einer Bedeutung zu einem bestimmten Worten, d. h. die Bildung eines Begriffs, beruht auf menschlichen Entscheidungen.

5. Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Bedeutung für ein Wort sondern mehrere mögliche Bedeutungen. Entsprechend gibt es nicht nur eine richtige Bedeutung für einen Satz sondern mehrere mögliche Bedeutungen.

6. Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Sprache sondern mehrere mögliche Sprachen.

7. Aus dieser Sprachen- und Bedeutungsvielfalt  ergibt sich für die sprachliche Verständigung zwischen den Individuen die Möglichkeiten des Nichtverstehens oder Missverstehen.

8. Um sich zu verstehen, muss zwischen Sprecher und Hörer Einigkeit über die gewählte Sprache und die darin festgelegte Bedeutung der Wörter bestehen.

9. Wenn nötig muss der Sprecher seine Sprache erläutern und die Bedeutung der von ihm benutzten Wörter klarstellen, z. B. durch nominale Definition mittels unmissverständlicher Begriffe.

10. Eine bestimmte Begrifflichkeit (also die Zuweisung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Wörtern) kann nicht wahr oder falsch sein sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig.

11. Ob eine bestimmte Begrifflichkeit bzw. Sprache zweckmäßiger ist als eine andere, hängt u. a. von der jeweiligen Praxis ab, in der die Sprache angewandt wird. So ist für das Leben auf Grönland eine differenzierte Begrifflichkeit in Bezug auf die Niederschläge nötig, während in der Karibik keine Sprache benötigt wird, die Hagelschauer von Graupelschauern unterscheidet.

12. Es wäre z. B. nach der Aufdeckung der molekularen Struktur des Wassers auch eine Begrifflichkeit möglich gewesen, die unter dem Oberbegriff "Wasser" sowohl "H2O-Wasser" als auch "Kirschwasser" (ein hochprozentiges alkoholisches Getränk) zusammenfasst. Allerdings wäre ein solches Klassifikationsystem hinderlich bei der Erforschung der Wirklichkeit, denn über das so definierte Wasser lassen sich nur wenige allgemeine Aussagen machen.

Ich fände es für die weitere Diskussion hilfreich, wenn Ihr zu erkennen gebt, wo Konsens und wo Dissens besteht. Wenn Euch Aspekte fehlen, die ihr für wichtig haltet, solltet ihr weitere Thesen formulieren.

Es grüßt Euch Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 02. Nov. 2004, 18:44 Uhr

hallo eberhardt,

ich denke, dass das wahrheitsproblem ein semantisches problem ist. um zu klären, ob ein satz wahr oder falsch ist, muss zunächst geklärt werden, was ein satz bedeutet.

du gibst uns 12 thesen vor, da ich gerade ein wenig kurz angebunden bin, werde ich zu der ein oder anderen these etwas sagen- falls mir noch eine ergänzung einfällt, werde ich sie später nachtragen:


Zitat:

1. Dasselbe Wort kann verschiedene Bedeutungen haben.

dem stimme ich zu. es gibt ausdrücke, die verschiedenes bedeuten. in der tradition (nach aristoteles) werden diese ausdrücke homonyma genannt.

Zitat:

2. Deshalb können auch Sätze, die aus denselben Wörtern bestehen, verschiedene Bedeutungen haben.

ebenfalls zustimmung. "diese bank ist grün" kann einmal auf die farbe einer sitzbank, und einmal auf die farbe der dresdener bank bezogen werden.

Zitat:

3. Anders ausgedrückt: Derselbe Satz kann verschiedenen Sprachen angehören und jeweils Unterschiedliches bedeuten.

das verstehe ich nicht. "diese bank ist grün" bedeutet zwar in zwei fällen etwas anderes, gehört aber dennoch der deutschen sprache an. was wäre denn ein beispiel für einen satz, der verschiedenen sprachen angehört, und entsprechend verschiedenes bedeutet?

Zitat:

4. Die Zuweisung einer Bedeutung zu einem bestimmten Worten, d. h. die Bildung eines Begriffs, beruht auf menschlichen Entscheidungen.

einverstanden. dass man mich, "thomas" genannt hat, war die entscheidung meiner eltern.

Zitat:

5. Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Bedeutung für ein Wort sondern mehrere mögliche Bedeutungen. Entsprechend gibt es nicht nur eine richtige Bedeutung für einen Satz sondern mehrere mögliche Bedeutungen.

damit bin ich nicht einverstanden. diese behauptung läßt sich so nicht halten. denken wir uns eine mögliche welt, in der es nur einen einzigen gegenstand einer bestimmten sorte gibt. dieser gegenstand erhält den unverwechselbaren namen "NN". in diesem falle hat der name, bzw. das wort "NN" nur eine einzige mögliche bedeutung, im sinne von einem möglichen referenten.
wenn wir (5) dahingehend abändern, dass wir sagen, es gebe worte (homonyma), die mehrere bedeutungen (unterschiedliche referenten) besitzen; und entsprechend gibt es mehrere bedeutungen für sätze, die homonyma enthalten, bin ich einverstanden.

Zitat:

6. Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Sprache sondern mehrere mögliche Sprachen.

wenn wir in (6) "richtige" streichen, bin ich einverstanden.

Zitat:

7. Aus dieser Sprachen- und Bedeutungsvielfalt  ergibt sich für die sprachliche Verständigung zwischen den Individuen die Möglichkeiten des Nichtverstehens oder Missverstehen.
8. Um sich zu verstehen, muss zwischen Sprecher und Hörer Einigkeit über die gewählte Sprache und die darin festgelegte Bedeutung der Wörter bestehen.
9. Wenn nötig muss der Sprecher seine Sprache erläutern und die Bedeutung der von ihm benutzten Wörter klarstellen, z. B. durch nominale Definition mittels unmissverständlicher Begriffe.

bisher einverstanden.

Zitat:

10. Eine bestimmte Begrifflichkeit (also die Zuweisung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Wörtern) kann nicht wahr oder falsch sein sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig.

nein. einspruch!
anders formuliert: eine bestimmte begrifflichkeit kann wahr oder falsch, bzw. zweckmäßig oder unzweckmäßig sein. dass quito die hauptstadt von ecuador ist, ist entweder wahr oder falsch - was ist daran zweckmäßig?

Zitat:

11. Ob eine bestimmte Begrifflichkeit bzw. Sprache zweckmäßiger ist als eine andere, hängt u. a. von der jeweiligen Praxis ab, in der die Sprache angewandt wird. So ist für das Leben auf Grönland eine differenzierte Begrifflichkeit in Bezug auf die Niederschläge nötig, während in der Karibik keine Sprache benötigt wird, die Hagelschauer von Graupelschauern unterscheidet.

was ich hiervon halten soll, weiß ich noch nicht. ich befürchte schlimmes (an ableitungen). der diskussion halber stimme ich -unter vorbehalt- zu.

Zitat:

12. Es wäre z. B. nach der Aufdeckung der molekularen Struktur des Wassers auch eine Begrifflichkeit möglich gewesen, die unter dem Oberbegriff "Wasser" sowohl "H2O-Wasser" als auch "Kirschwasser" (ein hochprozentiges alkoholisches Getränk) zusammenfasst. Allerdings wäre ein solches Klassifikationsystem hinderlich bei der Erforschung der Wirklichkeit, denn über das so definierte Wasser lassen sich nur wenige allgemeine Aussagen machen.

ein oberbegriff "wasser", welcher sowohl kirschwasser als auch H2O-Wasser umfaßt ist jederzeit denkbar. nur hätte man kaum sagen können, dass es sich bei H2O-wasser um "H2O-Wasser" handelt; bzw. bei kirschwasser um "kirschwasser". wenn man schon den begriff analytisch zerlegen kann in "H2O-Wasser" und "kirschwasser", warum sollte man an dem homonymen oberbegriff festhalten? der oberbegriff faßt zwei verschiedene gegenstände, die offensichtlich als solche unterschieden werden können, zusammen.
das hieße ockham's razor zu "ockham's chainsaw" umfunktionieren (aus den "entia" würden dann plötzlich "nomina" ).

- mfg thomas

- II
- jacopo_belbo am 02. Nov. 2004, 20:26 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich denke nicht, dass wir es bei der frage, "was ist wasser?" mit einer metaphysischen frage zu tun haben. die frage nach der struktur von wasser ist eine frage der naturwissenschaft, resp. der physik/chemie.

Zitat:

So gibt es etwa in Wolfgang Horns Welt nur Quarks

ich befürchte eher, dass es in wolfgang horns welt es nur das zu geben scheint, was er bevorzugt.

Zitat:

Zur Erläuterung des Ausdrucks "Wesen an und für sich" : Das ist eine deutsche Übersetzung von griech. "ousia" (bei Aristoteles auch: "to ti än einei" ) und lat. "essentia" bzw. "substantia". Buchstäblich kann man "essentia" als "Seiendheit" übersetzen. Es handelt sich um die Substantivierung des Partizips Präsens von "esse" bzw. "sein".

ich kenne den terminus technicus sehr wohl. allerdings wüßte ich nicht, was er bezeichnet.

wenn du mit "wesen an und für sich" im bezug auf das wasser meinst, dass der charakteristische bestandteil von wasser H2O ist, so gebe ich dir recht, dass H2O "das wesen des wassers an und für sich" ist.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 02. Nov. 2004, 21:50 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

ich denke nicht, dass wir es bei der frage, "was ist wasser?" mit einer metaphysischen frage zu tun haben.

Einverstanden. So weit.  

Zitat:

die frage nach der struktur von wasser ist eine frage der naturwissenschaft, resp. der physik/chemie.

Nicht ganz einverstanden. Denn unsere Naturwissenschaften "kochen auch nur mit Wasser"  - will sagen: sind eine von vielen menschlichen Praxen, die, wie wir wissen, alle gelingen oder scheitern können. Warum nun NUR diese eine (fehlbare) menschliche Praxis etwas Zutreffendes über die Struktur des Wassers hervorbringen können soll, sehe ich nicht ein.

Zitat:

wenn du mit "wesen an und für sich" im bezug auf das wasser meinst, dass der charakteristische bestandteil von wasser H2O ist, so gebe ich dir recht, dass H2O "das wesen des wassers an und für sich" ist.

Nein, Du kannst mir hierin nicht Recht geben, weil ICH das gar nicht behaupte. Ich habe nur - ausgehend von Deinem Ausdruck "essentielle Struktur" - die altehrwürdige Denkgewohnheit aufgezeigt, der Du - wohl im Kielwasser Kripkes - aufsitzt. Als hätte es nie einen Kant gegeben...

Jedenfalls müsstest Du, um diese Behauptung in ihrer Absolutheit verteidigen zu können, mehr wissen, als man gerade mit WISSENSCHAFTLICHEN Mitteln wissen KANN. Und genau HIER wird es metaphysisch - wenn nämlich eine Methode, die zur Vermeidung metaphysischer Voraussetzungen erdacht wurde, wie eine Offenbarung aus dem Wesen der Schöpfung vertreten wird.  

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 03. Nov. 2004, 00:55 Uhr

Hallo Eberhard!

Ich gehe einfach mal an Deinen Thesen entlang und sage, was mir dazu einfällt.

Zitat:

1. Dasselbe Wort kann verschiedene Bedeutungen haben.

2. Deshalb können auch Sätze, die aus denselben Wörtern bestehen, verschiedene Bedeutungen haben.

3. Anders ausgedrückt: Derselbe Satz kann verschiedenen Sprachen angehören und jeweils Unterschiedliches bedeuten.

So im Groben kann ich dem zustimmen.

(Um anzudeuten, in welcher Richtung eine Verfeinerung interessant wäre: In welchem Sinne kann man von einem Wort (einem Zeichen überhaupt) sagen, es sei in verschiedenen Kontexten "dasselbe" ? Hier bin ich nämlich mit de Saussure einig, dass "Identität" eines Zeichens ein ZeichenSYSTEM voraussetzt, da ein Zeichen kein "Ding" ist, sondern ein "Wert". Und die Identifizierung eines Zeichens als dasselbe setzt eine Interpretation voraus, die auf der Kenntnis des Systems basiert. - Eine solche Verfeinerung könnte, je nach Diskussionslage, bedeutsam werden...)

Zitat:

4. Die Zuweisung einer Bedeutung zu einem bestimmten Wort, d. h. die Bildung eines Begriffs, beruht auf menschlichen Entscheidungen.

Dem stimme ich zu, wenn "Entscheidung" nicht gleichgesetzt werden muss mit ausdrücklicher Willenserklärung.

Denn Wörter können nur etwas bedeuten im Zusammenhang eines semantischen Systems. Nun ist zwar die Sprache eine menschliche Kompetenz, aber keine menschliche "Erfindung" im technischen Sinne.
Und so "funktioniert" auch das Sprechen im Alltag - die "Zuteilung" von Bedeutung - meist halbbewusst, oft unwillkürlich. Nur in Zweifelsfällen, bei Missverständnissen usw. reflektieren und entscheiden wir dann explizit.  

Zitat:

5. Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Bedeutung für ein Wort sondern mehrere mögliche Bedeutungen. Entsprechend gibt es nicht nur eine richtige Bedeutung für einen Satz sondern mehrere mögliche Bedeutungen.

Ja.

Zitat:

6. Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Sprache sondern mehrere mögliche Sprachen.

Richtig. Denn von der "Richtigkeit" z. B. eines Ausdrucks oder Satzes kann nur innerhalb eines Regelsystems die Rede sein, d. h. bei Anwendung der geltenden Regeln dieses Systems. Innerhalb der Sprache kann über die Richtigkeit der Sprache insgesamt gar nicht entschieden werden, weil man dazu einen Standpunkt außerhalb dieser Sprache einnehmen müsste. Aber zweifellos befände man sich dann in einer anderen Sprache usf.

(Übrigens, wenn ich hier "System" sage, stelle ich keine besonders strengen Anforderungen an diesen Ausdruck. Das "System" der deutschen Sprache ist unvergleichlich lockerer gefügt als jedes axiomatische System.)

Zitat:

7. Aus dieser Sprachen- und Bedeutungsvielfalt  ergibt sich für die sprachliche Verständigung zwischen den Individuen die Möglichkeiten des Nichtverstehens oder Missverstehen.

Ja.

Zitat:

8. Um sich zu verstehen, muss zwischen Sprecher und Hörer Einigkeit über die gewählte Sprache und die darin festgelegte Bedeutung der Wörter bestehen.

Ja.

Wobei die Ausdrücke "gewählte Sprache" und "festgelegte Bedeutung" angesichts einer sog. natürlichen Sprache falsche Vorstellungen wecken könnten.

Zitat:

9. Wenn nötig muss der Sprecher seine Sprache erläutern und die Bedeutung der von ihm benutzten Wörter klarstellen, z. B. durch nominale Definition mittels unmissverständlicher Begriffe.

Ja. "Wenn nötig." Das ist ein wichtiger Punkt. Denn es ist das Scheitern der Verständigung, das uns zum bewussten Nachdenken, Entscheiden, Festlegen veranlasst. Wenn man Sprache als gemeinsame Praxis verstehen will, darf man sie m.E. nicht einseitig vom Standpunkt der Reflexion aus betrachten. Es ist vielmehr eine systematische Unterscheidung zwischen irreflexivem Gelingen und Reflexionsstandpunkt erfoderlich, um hier die Wirklichkeit der Sprache nicht verzerrt darzustellen. Auch ist es nützlich, die verschiedenen möglichen Niveaus der Reflexion (Stichwort "Metasprache" ) festzuhalten und sich klarzumachen, auf welchem man sich gerade befindet.

Zitat:

10. Eine bestimmte Begrifflichkeit (also die Zuweisung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Wörtern) kann nicht wahr oder falsch sein sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig.

Richtig. Allein schon deshalb, weil eine ausdrückliche "Zuweisung" eine REGEL für den GEBRAUCH ist - sprich: eine Norm. Normen kann es nur für Handlungen geben, und Handeln ist fast immer ziel- oder zweckgerichtet.

Zitat:

11. Ob eine bestimmte Begrifflichkeit bzw. Sprache zweckmäßiger ist als eine andere, hängt u. a. von der jeweiligen Praxis ab, in der die Sprache angewandt wird. So ist für das Leben auf Grönland eine differenzierte Begrifflichkeit in Bezug auf die Niederschläge nötig, während in der Karibik keine Sprache benötigt wird, die Hagelschauer von Graupelschauern unterscheidet.

12. Es wäre z. B. nach der Aufdeckung der molekularen Struktur des Wassers auch eine Begrifflichkeit möglich gewesen, die unter dem Oberbegriff "Wasser" sowohl "H2O-Wasser" als auch "Kirschwasser" (ein hochprozentiges alkoholisches Getränk) zusammenfasst. Allerdings wäre ein solches Klassifikationsystem hinderlich bei der Erforschung der Wirklichkeit, denn über das so definierte Wasser lassen sich nur wenige allgemeine Aussagen machen.

Eine unzulängliche Spezifikation von Wasser und Kirschwasser könnte auch in einem sehr handfesten Sinne "hinderlich für die Erforschung der Wirklichkeit" werden, da nach einem Wasserglas (0,2 l) voll Kirschwasser nur wenige Menschen noch etwas "erforschen" wollen oder können...

Sonst Zustimmung.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 03. Nov. 2004, 07:43 Uhr

hallo hermeneuticus,

in der frage, was denn nun wasser sei, sind wir schon ein stückchen weiter gekommen, indem wir festgestellt haben, dass es sich bei dieser frage nicht um eine metaphysische frage handelt.
dass die frage eine naturwissenschaftliche ist, ist in dem falle eher beiläufig. denken wir an die frage, ob der tisch vor mir mein tisch wäre, wenn er aus gänzlich anderem material bestünde. in diesem falle würde ich nicht unbedingt sagen, es sei eine naturwissenschaftliche frage. die chemische analyse fördert eine eigenschaft zutage, die es uns ermöglicht, eindeutig zu sagen, ob es sich bei einem vergleichsobjekt um wasser handelt oder nicht.


Zitat:

Warum nun NUR diese eine (fehlbare) menschliche Praxis etwas Zutreffendes über die Struktur des Wassers hervorbringen können soll, sehe ich nicht ein.


weil sie uns ein kriterium liefert, wie man wasser von anderen flüssigeiten unterscheiden kann. es mag andere, dem wasser ähnliche flüssigkeiten geben. aber es gibt nur eine flüssigkeit, deren strukturformel H2O ist.
(btw. ich glaube, dass nur ein schlechter kantianer wissenschaftliche erkenntnisse herabsetzt. ich bin zwar nicht eng mit der kant'schen lehre vertraut, denke aber schon, dass man den aspekt des transzendentalen realismus nicht unterschätzen sollte.)


Zitat:

Jedenfalls müsstest Du, um diese Behauptung in ihrer Absolutheit verteidigen zu können, mehr wissen, als man gerade mit WISSENSCHAFTLICHEN Mitteln wissen KANN


warum? wenn wir eine x-beliebige flüssigkeit in ihre bestandteile zerlegen, und fortan alle flüssigkeiten mit diesen bestandteilen mit dem namen "XYZ" bezeichen (das ist ja eben das, was ein starrer bezeichnungsausdruck leisten soll), dann sehe ich keine probleme, mehr gesagt zu haben, als wissenschaftlich nachweisbar ist.
ich habe nicht gesagt, dass alles, was wir jemals "wasser" genannt haben, bzw. was wir jemals "wasser" nennen werden, wird auch H2O sein, sondern, dass wir absofort diejenige flüssigkeit zu recht "wasser" nennen, die auch H2O ist. und wenn unser muster einmalig war, so ändert das nichts an der tatsache, dass diese musterflüssigkeit die strukturformel von H2O hat. ich glaube es ist immer noch nicht deutlich, worin die funktion eines starren bezeichnungsausdrucks besteht.


Zitat:

Und genau HIER wird es metaphysisch - wenn nämlich eine Methode, die zur Vermeidung metaphysischer Voraussetzungen erdacht wurde, wie eine Offenbarung aus dem Wesen der Schöpfung vertreten wird.


ich weiß immer noch nicht, was metaphysisches an der behauptung "wasser ist H2O" ist. das ist eine frage der chemie. metaphysisch wäre die behauptung, es bestehe eine notwendigkeit a priori, dass wasser H2O ist. aber es ist denkbar, dass  die struktur von wasser nicht H2O gewesen wäre. nur hat es sich a posteriori anders gezeigt, nämlich dass wasser eben H2O ist. und ich wüßte nicht, mit welchem recht man eine behauptung a posteriori metaphysisch nennen könnte.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 03. Nov. 2004, 12:02 Uhr

Hallo allerseits,

Zu der Frage "Was ist Wasser?" ein paar Anmerkungen.

Was-ist-Fragen scheinen sich immer noch großer Beliebtheit zu erfreuen, zumindest wenn man die Themen der Philtalk-Diskussionen nimmt. Man findet Diskussionen zu: "Was ist Zeit,  Raum, Liebe, Erfolg, Bewusstsein, Leben, Nichts, der Mensch u. a. m. ?"

Das Problem dieser Fragen besteht darin, dass oft nicht klar ist, wonach gefragt ist.

Man kann z. B. die Frage "Was ist Wasser?" einmal verstehen im Sinne von "Was bedeutet das Wort 'Wasser'?" Die Antwort gibt ein gutes Wörterbuch. Mein Sprach-Brockhaus gibt mehrere Bedeutungen an. Als erstes: "chemische Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff (H2O)" aber als drittes auch "Bezeichnung klarer Flüssigkeiten".

Hier wird nach der Wortbedeutung gefragt. Die Antwort ist eine Definition (bei Mehrdeutigkeit auch mehrere Definitionen). Die Definition soll bewirken, dass jedes Individuum dieselben Objekte mit dem betreffenden Wort bezeichnet. Insofern muss eine brauchbare Definition ein Merkmal angeben, welches das benannte Objekt von anderen Objekten unterscheidet.

Man kann die Frage "Was ist Wasser?" jedoch auch verstehen als etwas locker formulierte Frage nach dem, was man über Wasser weiß. Um diese Frage zu beantworten, kann man ein Lexikon oder eine Enzyklopädie heranziehen.  

Schließlich kann man die Frage "Was ist Wasser? " auch verstehen als die Frage: "Was ist das Wesen des Wassers?" Dabei stellt sich jedoch die neue Frage, was hier mit dem Wort "Wesen" gemeint ist.

Auch für "Wesen" gibt mein Sprach-Brockhaus mehrere Bedeutungen an. An vierter Stelle heißt es: "Philosophie: das Sosein, die grundlegende Eigenschaftlichkeit der Dinge".

Damit werden jedoch in Bezug auf die Klärung von Bedeutungen für mich mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.

Und mein (älteres) "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" von Hofmeister erläutert den Begriff "Wesen" u. a. als "das Bleibende, Beharrliche an einem Daseienden im Unterschied zu seinen wechselnden Zuständen, das wahre Sein, das wahrhaft Wirkliche im Gegensatz zur Erscheinung oder zum Schein".

Wenn man diese Definitionen in unsere Wasser-Frage einsetzt, gelangt man zu Fragen wie: "Was ist das Bleibende an Wasser?" oder "Was ist das wahre Sein des Wassers?"

Was damit gemeint ist, bleibt für mich erst recht unklar und solange diese Unklarheit besteht, sollte man Fragen nach dem Wesen meiden, denn man kann sich nicht sinnvoll über die Beantwortung einer unklaren Frage streiten.

Generell ergibt sich daraus eine Warnung vor "Was-ist-Fragen", solange nicht klar ist, wie diese zu verstehen sind,

meint Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 03. Nov. 2004, 12:14 Uhr

Hallo Thomas!

Wenn Du nur das behauptest, was Du in diesem Beitrag behauptest, haben wir keine Differenzen. Aber in vorherigen Beiträgen hast Du sehr viel weitergehende Geltungsansprüche erhoben.

Zitat:

ich glaube, dass nur ein schlechter kantianer wissenschaftliche erkenntnisse herabsetzt. ich bin zwar nicht eng mit der kant'schen lehre vertraut, denke aber schon, dass man den aspekt des transzendentalen realismus nicht unterschätzen sollte.

Ich setze wissenschaftliche Erkenntnisse nicht herab. Ich bestehe nur (in Übereinstimmung mit Kant) darauf, dass der methodisch begrenzte Geltungsbereich wissenschaftlicher Aussagen berücksichtigt wird. Die Wissenschaftlichkeit von Aussagen beruht nämlich gerade auf der strengen Kontrolle ihrer Geltungsbedingungen.
Wenn es eine Wissenschaft nach ihren eigenen Voraussetzungen ausschließlich mit Masse in Bewegung zu tun hat (wobei sie selbst definiert, als was "Masse" und "Bewegung" gelten), dann gelten alle durch empirische Daten bestätigten Aussagen genau für den so definierten Gegenstandsbereich UND FÜR NICHTS ANDERES.
Die Grenzen wisenschaftlicher Aussagen wären dagegen überschritten, wenn behauptet würde, dass die gewählte Definition des Gegenstandsbereichs die einzig richtige sei, weil NUR sie zutreffende Aussagen über die Wirklichkeit erbringen könne, "wie sie ist". Denn das beansprucht die Kenntnis einer Wirklichkeit, die PER DEFINITIONEM nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Aussagen ist und sein soll.

Zitat:

ich weiß immer noch nicht, was metaphysisches an der behauptung "wasser ist H2O" ist.

Daran ist auch nichts Metaphysisches. Metaphysisch ist die Behauptung "H2O" sei die ESSENTIELLE STRUKTUR von Wasser. Im Zusammenhang mit Deinen anderen Behauptungen wird nämlich klar, dass Du unter "essentieller Struktur" nicht etwas verstehst, das Menschen zu bestimmten Zwecken ALS DAS WESENTLICHE einer - so und so definierten - Sache VERSTEHEN, sondern als das Wesen DER SACHE SELBST.

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 03. Nov. 2004, 13:12 Uhr

Hallo Eberhard!

Deinem letzten Beitrag und seinem Fazit stimme ich zu:

Zitat:

Generell ergibt sich daraus eine Warnung vor "Was-ist-Fragen", solange nicht klar ist, wie diese zu verstehen sind.

Nun verwendest Du gern die Redeweise "Wirklichkeit, wie sie ist" oder "Beschaffenheit der Wirklichkeit, wie sie ist". Etwa: "Wahre Aussagen sind Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, wie sie ist."

Das ist, in erster Näherung, eine völlig legitime Redeweise. Allerdings könnte sie ähnliche Missverständnisse aufwerfen wie die Rede vom "Wesen" einer Sache. Denn "Wirklichkeit, wie sie ist", ist ja ein sog. ontologischer Ausdruck, der sich also gerade nicht auf Wortbedeutungen und Geltungsansprüche bezieht, sondern auf das WIRKLICHE SEIN dessen, von dem gerade gesprochen wird.

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 03. Nov. 2004, 13:27 Uhr

Hallo Thomas,

hier noch ein Gedankensplitter...

Was würde passieren, wenn in der deutschen Sprache das ungenaue Wort "Wasser" vollständig durch den einzig korrekten Terminus "H2O" ersetzt würde, so dass wir bei allen Gelegenheiten, wo wir jetzt "Wasser" sagen, "H2O" sagten?

Gruß
H.  

- II
- jacopo_belbo am 03. Nov. 2004, 13:33 Uhr

hallo alle miteinander,

was ist wasser? wasser ist H2O.
ich verstehe nicht, wo man bei einer solchen klaren frage und einer ebenso klaren antwort probleme sehen kann.
auch verstehe ich nicht, was problematisches an der aussage "H2O ist die essentielle struktur von wasser" ist. wissenschaftler haben wasser analysiert. das ergebnis: die bestandteile sind H2O. fortan wird dasjenige wasser genannt, dessen struktur H2O ist. H2O ist dasjenige, was wasser ausmacht, also seine essentielle struktur.
und dass dasjenige, was analysiert worden ist, die bestandteile H2O hat, ist eine aussage über die wirklichkeit. ich denke, dass eine frage, ob H2O das wesen -im sinne des philosophischen terminus technicus- des wassers ist, die falsche frage ist. die frage ist, woraus wasser besteht; die antwort lautet H2O. aus logischer sicht ist die eigenschaft des wassers, H2O zu sein, eine a posteriori notwendige eigenschaft, weil ausschließlich wasser diese eigenschaft zukommt. ebenso hat sich herausgestellt, dass dasjenige, was wir als licht bezeichnen, elektromagnetische strahlung der wellenlänge zwischen 400 und 750 nanometern entspricht. das ergebnis war nicht zwangsläufig zu erwarten. nun ist dem aber so.

- mfg thomas

p.s.: die frage nach dem kantischen ding an sich ist eine bedeutungslose frage. wenn es wirklich ein ding an sich gäbe, so bliebe es für uns unerkennbar. wir könnten nichteinmal davon sprechen, dass es kausal auf uns einwirkt, und uns irgendwelche erscheinungen präsentiert. überhaupt ist diese unterscheidung zwischen der scheinbaren welt, und der welt an sich ein ding der unmöglichkeit. aber das steht hier nicht zur debatte.

- II
- Eberhard am 03. Nov. 2004, 13:38 Uhr

Hallo Thomas,

Du kritisierst meine These: "Derselbe Satz kann verschiedenen Sprachen angehören und jeweils Unterschiedliches bedeuten."

Zur Erläuterung: Ich benutzte das Wort "Sprache" hier in dem Sinne wie in dem Satz: "Hegel hat seine eigene Sprache entwickelt" oder "Neben der Umgangssprache haben sich spezielle Fachsprachen entwickelt."

In Frau Meiers Umgangssprache bedeutet der Satz "Herr X besitzt ein neues Einfamilienhaus" etwas anderes als in der Sprache des Rechtsanwalts Müller.

Du kritisierst meine These: "Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Bedeutung für ein Wort sondern mehrere mögliche Bedeutungen. Entsprechend gibt es nicht nur eine richtige Bedeutung für einen Satz sondern mehrere mögliche Bedeutungen."

Bei dieser These geht es nicht um anerkannte Mehrdeutigkeit, sondern ich beziehe mich auf den "Streit um Worte" wie z. B. um das Wort "demokratisch", wobei jemand eine bestimmte Bedeutung des betreffenden Wortes für die einzig richtige hält.

Du kritisierst die These: "Eine bestimmte Begrifflichkeit (also die Zuweisung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Wörtern) kann nicht wahr oder falsch sein sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig."

Du erhebst Einspruch mit dem Gegenbeispiel: " dass quito die hauptstadt von ecuador ist, ist entweder wahr oder falsch - was ist daran zweckmäßig? "

Hier gilt es um den Eigennamen "Quito", der einer bestimmten Stadt gegeben wurde. Das Wort "Quito" wurde einem bestimmten Objekt zugeordnet. Diese Zuordnung ist insofern zweckmäßig, als dieser Ortsname nicht häufig ist und deshalb eine eindeutige Identifizierung der mit dem Namen "Quito" bezeichneten Stadt ermöglicht.

Diese Benennung der Stadt war nicht wahr oder falsch, die Benennung mit dem Namen "Ruito" wäre genauso gut möglich und sinnvoll gewesen. Eine Begrifflichkeit ist als solche nicht wahr oder falsch, diese Prädikate lassen sich nur auf Behauptungen anwenden, jedoch nicht auf die Bildung eines Begriffs.

Deinen Einwand gegen ein Klassifikationssystem mit dem Oberbegriff "Wasser" und den Unterbegriffen "Kirschwasser" und "H2O-Wasser" verstehe ich nicht ganz. Oberbegriffe fassen doch immer Gegenstände zusammen, die sich unterscheiden und deshalb in verschiedene Unterkategorien aufteilen lassen.

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 03. Nov. 2004, 13:44 Uhr


on 11/03/04 um 13:27:57, Hermeneuticus wrote:

Hallo Thomas,

hier noch ein Gedankensplitter...

Was würde passieren, wenn in der deutschen Sprache das ungenaue Wort "Wasser" vollständig durch den einzig korrekten Terminus "H2O" ersetzt würde, so dass wir bei allen Gelegenheiten, wo wir jetzt "Wasser" sagen, "H2O" sagten?

Gruß
H.  


nachtrag: es geht nicht darum, dass im sprachgebrauch "wasser" synonym zu "H2O" ist.
wir nehmen an, dass gödel das unvollständigkeits theorem aufgestellt hat. stellen wir uns nun aber vor, statt gödel hätte es sein freund paulchen panther geschrieben. also ist "gödel" nicht synonym zu "derjenige, der das unvollständigkeitstheorem" aufgestellt hat; und das obwohl wir synonymie behaupteten. der referent zu "gödel" ist gödel. der referent zu "derjenige, der das unvollständigkeitstheorem aufgestellt hat" ist nach unserem beispiel aber paulchen panther.
es geht um materiale identität. (a=b). nicht um identität der beschreibung.  und bevor erneut der einwand kommt, dass dasjenige, was aus dem wasserhahn kommt, nun aber nicht ausschließlich H2O sei, sei angemerkt, dass man dasjenige, was aus dem wasserhahn kommt, zwar umgangssprachlich "wasser" nennt; es handelt sich aber streng genommen um eine lösung von stoffen in wasser.
und das läßt sich auch überprüfen.

- mfg thomas

- II
- jacopo_belbo am 03. Nov. 2004, 14:01 Uhr


on 11/03/04 um 13:38:31, Eberhard wrote:

Hallo Thomas,

Du kritisierst meine These: "Derselbe Satz kann verschiedenen Sprachen angehören und jeweils Unterschiedliches bedeuten."

Zur Erläuterung: Ich benutzte das Wort "Sprache" hier in dem Sinne wie in dem Satz: "Hegel hat seine eigene Sprache entwickelt" oder "Neben der Umgangssprache haben sich spezielle Fachsprachen entwickelt."

In Frau Meiers Umgangssprache bedeutet der Satz "Herr X besitzt ein neues Einfamilienhaus" etwas anderes als in der Sprache des Rechtsanwalts Müller.

Du kritisierst meine These: "Es gibt deshalb nicht nur eine richtige Bedeutung für ein Wort sondern mehrere mögliche Bedeutungen. Entsprechend gibt es nicht nur eine richtige Bedeutung für einen Satz sondern mehrere mögliche Bedeutungen."

Bei dieser These geht es nicht um anerkannte Mehrdeutigkeit, sondern ich beziehe mich auf den "Streit um Worte" wie z. B. um das Wort "demokratisch", wobei jemand eine bestimmte Bedeutung des betreffenden Wortes für die einzig richtige hält.

Du kritisierst die These: "Eine bestimmte Begrifflichkeit (also die Zuweisung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Wörtern) kann nicht wahr oder falsch sein sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig."

Du erhebst Einspruch mit dem Gegenbeispiel: " dass quito die hauptstadt von ecuador ist, ist entweder wahr oder falsch - was ist daran zweckmäßig? "

Hier gilt es um den Eigennamen "Quito", der einer bestimmten Stadt gegeben wurde. Das Wort "Quito" wurde einem bestimmten Objekt zugeordnet. Diese Zuordnung ist insofern zweckmäßig, als dieser Ortsname nicht häufig ist und deshalb eine eindeutige Identifizierung der mit dem Namen "Quito" bezeichneten Stadt ermöglicht.

Diese Benennung der Stadt war nicht wahr oder falsch, die Benennung mit dem Namen "Ruito" wäre genauso gut möglich und sinnvoll gewesen. Eine Begrifflichkeit ist als solche nicht wahr oder falsch, diese Prädikate lassen sich nur auf Behauptungen anwenden, jedoch nicht auf die Bildung eines Begriffs.

Deinen Einwand gegen ein Klassifikationssystem mit dem Oberbegriff "Wasser" und den Unterbegriffen "Kirschwasser" und "H2O-Wasser" verstehe ich nicht ganz. Oberbegriffe fassen doch immer Gegenstände zusammen, die sich unterscheiden und deshalb in verschiedene Unterkategorien aufteilen lassen.

Es grüßt Dich Eberhard.


hallo eberhard,

was ist daran zweckmäßig quito "quito" zu nennen? man hätte es genausogut "köln" nennen können. da quito in ecuador liegt, wäre es kaum mit "köln am rhein" zu verwechseln gewesen, oder?
wenn es weder wahr noch falsch ist, quito "quito" zu nennen, dann kann es auch nicht zweckmäßig bzw. unzweckmäßig sein. und gesetzt den fall, wir sagten, quito hieße unzweckmäßiger weise "köln" was hätten wir davon?

Zitat:

Zur Erläuterung: Ich benutzte das Wort "Sprache" hier in dem Sinne wie in dem Satz: "Hegel hat seine eigene Sprache entwickelt" oder "Neben der Umgangssprache haben sich spezielle Fachsprachen entwickelt."

geschenkt. man könnte auch sagen, dass ein satz unterschiedlich verstanden werden kann.

Zitat:

Bei dieser These geht es nicht um anerkannte Mehrdeutigkeit, sondern ich beziehe mich auf den "Streit um Worte" wie z. B. um das Wort "demokratisch", wobei jemand eine bestimmte Bedeutung des betreffenden Wortes für die einzig richtige hält.

nun liegt es aber in der sache des wortes "demokratie" homonym zu sein. die attische demokratie ist eine andere als die bundesdeutsche, und die bundesdeutsche ist eine andere als die amerikanische -wie sich auch heute wieder herausgestellt hat.

Zitat:

Deinen Einwand gegen ein Klassifikationssystem mit dem Oberbegriff "Wasser" und den Unterbegriffen "Kirschwasser" und "H2O-Wasser" verstehe ich nicht ganz. Oberbegriffe fassen doch immer Gegenstände zusammen, die sich unterscheiden und deshalb in verschiedene Unterkategorien aufteilen lassen.

wenn wir eine kategorisierung vornehmen, so ist das eine benennung von gegenständen. das dasjenige, was wir hier "H2O-wasser" nennen, aus H2O besteht, ändert nichts an der sachlage, dass es aus H2O besteht. indem fall hätten wir unseren satz "wasser ist H2O" entsprechend anpassen müssen.
dann würden wir sagen "H2O-Wasser" besteht aus H2O. ich sehe weder einen fort- noch einen rückschritt.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 03. Nov. 2004, 18:14 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

was ist daran zweckmäßig quito "quito" zu nennen? man hätte es genausogut "köln" nennen können. da quito in ecuador liegt, wäre es kaum mit "köln am rhein" zu verwechseln gewesen, oder?

Warum nennen wir nicht einfachheitshalber alle Hauptstädte der Welt "Paris" ? Da jede in einem anderen Land liegt, kann es doch zu keinerlei Verwechslungen kommen. Und wenn es nötig ist, kann man doch jederzeit das gemeinte Land hinten anhängen: Paris, Frankreich. Paris, Texas. Paris, Ohio. Paris, Deutschland... Kein Problem.

Da Du selbst auf die Möglichkeit der Verwechslung hinweist, ist Dir auch klar, dass ein Ausdruck umso spezifischer wird, je weniger verschiedene Bedeutungen oder Referenten er hat.

Aus diesem Grund würde auch "H2O" seine spezifische Bedeutung, die es in der Fachsprache der Chemiker hat, einbüßen, wenn wir das Wort "Wasser" dadurch vollständig ersetzten. "H2O" wäre dann als Bezeichnung genauso "schwammig" wie heutzutage "Wasser". Dass wir dafür jedesmal die "essentielle Struktur" von Wasser objektiv korrekt (mit "aposteriorischer Notwendigkeit" ) bezeichnen würden, dafür könnten wir uns nix kaufen. Null.

Ich denke aber, dass diese Überlegung sehr aufschlussreich ist.
Man sieht daran z. B. dass die Bedeutung eines Ausdrucks vor allem von ihrem Gebrauch abhängt. Macht man von einem sehr spezifischen Ausdruck einen unspezifischen Gebrauch, leistet er genau das nicht mehr, was er zuvor leistete. Und diejenigen, die vorher mit "H2O" etwas ganz Bestimmtes bezeichneten (die Molekularstruktur von Wasser), müssen sich einen neuen Ausdruck dafür einfallen lassen.

Wenn die Bedeutung eines Ausdrucks vor allem von ihrem Gebrauch abhängt, kann sie nicht vor allem von der "Taufe" abhängen und der "Kausalkette", die davon in Gang gesetzt wurde.
Die These, dass seit der Erfindung der chemischen Bezeichnung für Wasser "H2O" ein "starrer Bezechnungsausdruck" sei und dass durch diese Namensgebung eine "Kausalkette" ausgelöst wurde, die für seine "Starre"  sorgt, würde genau in dem Moment ad absurdum geführt, da "H2O" den (falschen, nicht-starren) Ausdruck "Wasser" vollständig verdrängt hätte.

Der chemische Fachausdruck ist also kein "richtiger Eigenname", sondern eine Spezifikation von "Wasser" innerhalb einer bestimmten Theorie und Praxis, in der Stoffe ausschließlich hinsichtlich ihrer molekularen Zusammensetzung untersucht werden. Diese Art von Untersuchungen sind der Zweck, der die Bezeichnung "H2O" gehaltvoll macht. Außerhalb dieser Theorie und Praxis ist es schlechterdings nicht von Belang, welche molekulare Struktur Wasser hat. (Natürlich gibt es (heutzutage) lebensweltliche Praxen, in denen Rückgriff auf chemische Erkenntnisse unerlässlich (geworden) ist.)

Zitat:

wenn es weder wahr noch falsch ist, quito "quito" zu nennen, dann kann es auch nicht zweckmäßig bzw. unzweckmäßig sein.


Wovon hängt es ab, ob der Gebrauch eines Eigennamens richtig oder falsch ist?

Wenn ich im Gespräch jemanden "Michael" nenne, und er korrigiert mich "Ich heiße Thomas", dann sage ich nicht: "Pardon, das hab ich nicht gesehen." Sondern ich befolge künftig gehorsam die Vorschrift, jemanden "Thomas" zu nennen, der aufgrund der verbindlichen Namensgebung seiner Eltern (an die auch der Getaufte sich gehorsam hält!) so genannt werden SOLL.

Die Absichten, die seine Eltern bei der Auswahl dieses Namens verfolgten, spielen für andere keine Rolle mehr. Namen werden aber - und das ist eine Überlegung wert! - gar nicht in der vordringlichen Absicht verliehen, ihre Träger leicht identifizierbar zu machen. Zu diesem Zweck wäre eine Durchnummerierung, wie sie von Ämtern praktiziert wird oder bei Himmelskörpern von den Astronomen , sehr viel zweckmäßiger... Aber das nur am Rande.

Jedenfalls sind die Gründe für eine "richtige" oder "falsche" Verwendung bei Eigennamen andere als bei Klassifikationen (Prädikaten). Für die richtige oder falsche Verwendung von Prädikaten gibt es Regeln, die jeder Sprecher zusammen mit der Erstverwendung lernt und aufgrund derer er eine eigenständige Kompetenz hat, über "richtig" und "falsch" zu urteilen.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 03. Nov. 2004, 20:02 Uhr

hallo hermeneuticus,

ein starrer bezeichnungsausdruck dient dazu genau seinen referenten zu benennen. den namen besitzt der referent nicht aus sich heraus, sondern er wird im akt der "taufe" verliehen. starre bezeichnungsausdrücke werden den gegenständen verliehen, die durch ihren "namen" unverwechselbar mit anderen namen werden.
wenn wir alles, was klar, flüssig, feucht, naß etc. ist, "wasser" nennen, so ist es denkbar, dass darunter flüssigkeiten sind, die sich unterscheiden. wenn wir nur diejenige flüssigkeit mit "wasser" bezeichnen, deren molekulare zusammensetzung H2O ist, so haben wir a) eine materiale erkenntnis über die wirklichkeit erlangt (eine flüssigkeit besteht aus H2O) und b) können "wasser" von andern gegenständen abgrenzen; z. B. "narrenwasser".

was mich an der diskussion mit dir verwundert, ist, dass du weder die erkenntnis, dass es eine molekulare struktur (z. B. von wasser) gibt, noch sinnvoll widerlegen kannst, dass die molekulare struktur von wasser H2O ist. deine einwände betrafen einerseits, dass wir den begriff umgangssprachlich anders verwenden, als es die chemiker tun; wir also "lösungen" mit "wasser" bezeichnen - andererseits kritisiertest du eine unzulässige verallgemeinerung, die ich so nie getroffen habe.

ich denke, an diesem punkt können wir die diskussion des wasser/H2O-Beispiels beenden. und als vorläufiges ergebnis können wir festhalten, dass es eigenschaften von gegenständen gibt, die erkennbar sind; und das man gegenstände "frei" klassifizieren kann - es aber klassifikationssysteme gibt, die sich an notwendigen eigenschaften orientieren, und die daher erkenntnistheoretischen vorrang vor klassifikationen haben, die sich an kontingenten eigenschaften orientieren.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 04. Nov. 2004, 01:04 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

ich denke, an diesem punkt können wir die diskussion des wasser/H2O-Beispiels beenden.

Das sehe ich auch so. Wir reden beharrlich an einander vorbei.
Zitat:

und als vorläufiges ergebnis können wir festhalten...

Nicht wir! Mein Fazit sieht etwas anders aus.

Zitat:

... dass es eigenschaften von gegenständen gibt, die erkennbar sind...

In diesem Punkt habe ich Dir nie widersprochen.

Zitat:

...es aber klassifikationssysteme gibt, die sich an notwendigen eigenschaften orientieren, und die daher erkenntnistheoretischen vorrang vor klassifikationen haben, die sich an kontingenten eigenschaften orientieren.

Da der Unterschied zwischen "notwendig" und "kontingent" nur eine Bedeutung FÜR UNS hat, kann auch seine Anwendung auf "Eigenschaften" von Gegenständen nur FÜR UNS eine Bedeutung haben.
Jede Behauptung einer "Notwendigkeit im Dasein" - von Dingen oder Eigenschaften - fiele zurück hinter die von Kant angestoßene Wende in der Erkenntniskritik.

Dass IM RAHMEN einer wissenschaftlichen Theorie (oder eines sonstigen, weniger systematischen Interpretationszusammenhangs) die Unterscheidung zwischen Notwendigem und Kontingentem schlechthin grundlegende Bedeutung hat, gebe ich jederzeit zu. Ohne sie hätten wir nicht einmal Gegenstände, über die wir sprechen könnten. Aber es ist ersichtlich, dass die Bedeutung und Geltung dieser Unterscheidung nicht über den Geltungsbereich der jeweiligen Theorie hinausreichen kann.

Darum wäre es schlicht vermessen, von einer "notwendigen Theorie" zu sprechen. Denn damit würde ja jede - auch zukünftige - theoretische Alternative ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss wäre aber gleichbedeutend mit dem Opfer der Wissenschaftlichkeit.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 04. Nov. 2004, 07:20 Uhr

nachtrag:

es geht nicht darum, dass es einen weltplan gibt, der a priorische notwendigkeiten enthält -in diesem falle sähe ich eine kantische kritik als berechtigt an-, sondern um theoriebildung, die sich a posteriori an notwendigen eigenschaften -die als solche erst erkannt werden müssen- der gegenstände orientiert.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 04. Nov. 2004, 09:41 Uhr

Hallo allerseits,

einige Anmerkungen noch zur Begriffsbildung, worunter ich die Zuordnung einer bestimmten Bedeutung zu einem bestimmten Wort verstehe.

Ein Begriff ist demnach ein Wort mit seiner Bedeutung.

Wird die Zuordnung der Bedeutung durch andere Begriffe vorgenommen, so spreche ich von einer "(nominalen) Definition".

Wenn Aussagen über ein Wort bzw. ein Begriff gemacht wird, schreibe ich das Wort in Anführungszeichen (" Wasser" ), wenn ich über das spreche, was das Wort bedeutet oder bezeichnet, verwende ich keine Anführungszeichen und schreibe nur: Wasser.

Wie kann man die Bedeutung eines Wortes bestimmen? Welche Bedeutung hat z. B. das Wort "Wasser" ?

Als geschriebenes Zeichen ist "Wasser" nicht anderes als eine Folge von Buchstaben so wie auch das Wort "Ressaw". Beide haben als solche keine bestimmte Bedeutung. Bedeutung erhalten Wörter erst durch Individuen, die diese Wörter nach bestimmten Regeln verwenden, um etwas auszusagen und einander mitzuteilen.

Wenn Individuum A dem Individuum B etwas sagen will, so muss B die Bedeutung der von A benutzten Wörter kennen, das heißt sie müssen eine gemeinsame Sprache, nennen wir sie "AB-Sprache", sprechen und bilden insofern eine Sprachgemeinschaft.

Man kann dann fragen: "Was bedeuten die Wörter "Wasser" und "Ressaw" in der AB-Sprache?" Nehmen wir an, dass  in AB-Land die moderne Chemie unbekannt ist. A und B bezeichnen alle klaren Flüssigkeiten als "Wasser". Nicht klare Flüssigkeiten werden als "Milch", "Rotwein" etc. bezeichnet. Es gibt in der AB-Sprache verschiedene Arten von Wasser, z. B. Regenwasser, Meerwasser, Feuerwasser etc. Das Wort "Ressaw" gibt es in der AB-Sprache nicht.

Wenn man also einen Bewohner von AB-Land fragt: "Was bedeutet in der AB-Sprache das Wort 'Wasser'?", dann wird er sagen: "Wir sagen zu allen klaren Flüssigkeiten 'Wasser'". Und er wird vielleicht auf eine Flasche zeigen und sagen: "Hier ist z. B. Wasser drin".  

Wenn ich A die zusätzliche Frage stellen würde: "Was ist Wasser?", so kann er nur sagen: "Wasser ist eine klare Flüssigkeit". Diese Aussage ist allerdings in der AB-Sprache eine Tautologie, denn diese Aussage gilt per Definition. Wenn ich in Bezug auf eine blaue Flüssigkeit sagen würde: "Dies Wasser schmeckt süß", dann wäre das nicht empirisch falsch, sondern ein sprachlicher Fehler. A würde zu mir nicht sagen: "Es ist nicht so wie Du sagst. Du hast Dich in Bezug auf die Tatsachen geirrt" sondern er würde sagen: "Zu blauen Flüssigkeiten sagen wir nicht 'Wasser'. Du hast das Wort falsch gebraucht."

Wenn ich A fragen würde: "Was weiß man in AB-Land über Wasser und seine Eigenschaften?", so könnte er wohl nur wenige Aussagen machen, die auf jede Art von Wasser zutreffen, außer den Merkmalen, die das Wort "Wasser" definieren. Er könnte wohl sagen: "Wasser ist schwerer als Luft", "Durch Wasser kann man hindurch sehen", "Wenn man einen Stab in Wasser hält, erscheint der Stab an der Wasseroberfläche als geknickt".  Aber das wäre schon so ziemlich alles.

Man sieht, dass diese Begriffsbildung, dies Klassifikationssystem wenig leistungsfähig ist, insofern ich mit der Aussage "Bei diesem Stoff handelt es sich um Wasser" relativ wenig implizit darin enthaltene Informationen übermitteln kann.

Nehmen wir zum Vergleich OP-Land, wo man bereits die Verbindung H2O entdeckt hat.
Ich frage O: "Was bedeuten die Wörter 'Wasser' und 'Ressaw' in der OP-Sprache?"
O antwortet: "Das Wort "Ressaw" kenne ich nicht. Wir bezeichnen mit dem Wort 'Wasser' alle Stoffe, die aus der Verbindung H2O bestehen." Sind andere Stoffe in Wasser gelöst, so stellen wir die Bezeichnung dieser Stoffe voran, wie z. B. Zuckerwasser, Salzwasser, Mineralwasser, Sodawasser, Seifenwasser. Alkohole wurden früher auch als "Wasser" bezeichnet, aber dieser Gebrauch ist heute nachrangig geworden, weshalb es selten zu Missverständnissen kommt."

Wenn man in der OP-Sprache einen Stoff mit dem Wort "Wasser" bezeichnet, hat man damit eine riesige Menge an Informationen über diesen Stoff übermittelt: das gesamte Wissen von Chemie, Physik und aller anderen Wissenschaften über H2O.    

Soviel fürs erste von Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 04. Nov. 2004, 10:23 Uhr

Hallo Eberhard!

Mit Deinem letzten Beitrag bin ich einverstanden bis auf den letzten Absatz:

Zitat:

Wenn man in der OP-Sprache einen Stoff mit dem Wort "Wasser" bezeichnet, hat man damit eine riesige Menge an Informationen übermittelt: das gesamte Wissen von Chemie, Physik und aller anderen Wissenschaften über H2O.

Dass mit einer Bezeichnung zugleich eine riesige Menge an Information ÜBERMITTELT sein soll,  ist aus meiner Sicht ein Glaube an Magie.
Dass eine Bezeichnung auf ein solches Wissensreservoir zurückverweist - ja, sehe ich ein. Aber "übermittelt" sollte man ein Wissen nur nennen, wenn es auch rezipiert und verstanden worden ist. Und das dürfte mit der Verwendung einer anderen Bezeichnung (und anderen Klassifikation für Gegenstände) allein kaum zu erreichen sein.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 04. Nov. 2004, 11:00 Uhr

hi ihr beiden,

seltsam, dass sich keiner von den "üblichen verdächtigen" (ein netter film *gg*) hier zu wort gemeldet hat. die diskussion hat ja schon etwas von einer privatvorstellung; leider sitzen wir nicht vis á vis an einem gemütlichen ort beisammen. weshalb sich wohl kein anderer zu wort meldet? tsts.

ich habe dem letzten beitrag soweit nichts hinzuzufügen.

Zitat:

Wenn man in der OP-Sprache einen Stoff mit dem Wort "Wasser" bezeichnet, hat man damit eine riesige Menge an Informationen übermittelt: das gesamte Wissen von Chemie, Physik und aller anderen Wissenschaften über H2O.


wir können sagen:

· es wird eine riesige menge an zusatzinformation vorausgesetzt, um die information zu decodieren - sie ist implizit in der aussage enthalten

- mfg thomas


p.s.: allerdings könnte man den leuten in AB-Land vorhalten, dass sie verschiedene stoffe wasser nennen; nämlich alle die, die in den "wasser" definierenden eigenschaften übereinstimmen.

- II
- Hermeneuticus am 04. Nov. 2004, 11:27 Uhr

Ja, Thomas,

ich hab mich auch schon gefragt, wieso sich keiner mehr zu Wort meldet. Wir drei beiden sind die einzigen... :-)

Hallo?? Ist hier sonst noch jemand???

Ist die Diskussion so abstrakt, unverständlich, irrelevant?

Ich hatte schon die Assoziation "Aussscheidungsfahren" : Das Feld der Radler auf der Tour de France kommt am Fuß von Alpe d'Huez an, und ein Team hält vorn das Tempo so gnadenlos hoch, dass nur noch wenige an der Spitze übrigbleiben...
Ist die Wahrheitsfrage eine solche "Bergankunft" ? Sind wir so gnadenlos wie das Team von Lance Armstrong?  
[???]

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 04. Nov. 2004, 12:00 Uhr

hai,

mhm. dass die diskussion sehr abstrakt ist, kann ich nicht sagen. jede partei ist sichtlich bemüht nicht abstrakter als notwendig zu schreiben. und die beiträge sind verständlich. ich denke, dass das thema vielleicht einige leute abschreckt. es ist leichter etwas zu "bewußtsein ungleich freiheit" (ich habe die überschrift einmal exemplarisch herausgepickt, ohne etwas wetrendes zu den beiträgen sagen zu wollen) zu schreiben, als etwas gescheites zum thema "wahrheit".
es ist zumindest eine zeitlang chic gewesen, die frage nach der wahrheit mit "wahrheit ist, was man draus macht" zu beantworten (wobei ich mich nicht frei sprechen möchte, dieser versuchung nicht auch schon erlegen gewesen zu sein). mit einer solchen antwort erspart man sich die eigentliche diskussion.

da wir hier weitgehend "analytisch" vorgehen -gut ergänzt durch hermeneutik- wird es schwer, für außenstehende etwas -im sinne von irgendetwas- zu schreiben. zu schnell werden tief klingende einsichten entlarvt. es ist schwerer, seine meinung zu verteidigen, weil man schneller widerlegt werden kann.

andererseits sind die diskussionen fruchtbarer; es wird nicht soviel drumherumphilosophiert.

ich freue mich über die weitere diskussion, und über zukünftige diskussionen mit euch :]

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 04. Nov. 2004, 19:29 Uhr

Hallo allerseits,

Ich schlage vor, dass wir uns von der Wasser-Frage lösen und der Frage zuwenden, wie man erkennen kann, ob ein Satz etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagt, und wie man derartige positive oder empirische Aussagen von anderen Sätzen unterscheiden kann. Ist zum Beispiel der Satz: "Er hat Mut gezeigt und seinem Vorgesetzten widersprochen" eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit? Was ist mit dem Satz: "Er hat sich vorbildlich verhalten und seinem Vorgesetzten widersprochen" ?

fragt Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 04. Nov. 2004, 21:39 Uhr

hallo allerseits,

ich werde mich morgen ggf. eingehender zu wort melden.
derzeit treibt mich eine reihe von sätzen um, wo ich nicht sagen kann, ob sie etwas über die wirklichkeit aussagen oder nicht.
es sind sätze der art, "gabi glaubt, dass es ein rezept für apfelkuchen gibt, welches auch leicht zu erlernen sei". sagt uns dieser satz überhaupt was? und wenn ja, was?

- mfg thomas

p.s.: wie gesagt - morgen mehr :] nix für ungut

- II
- jacopo_belbo am 05. Nov. 2004, 01:09 Uhr

hallo eberhard,

ich melde mich noch einmal kurz zu wort bezüglich deiner beiden sätze.


Zitat:

Er hat Mut gezeigt und seinem Vorgesetzten widersprochen


dieser satz ist kein satz "über die beschaffenheit der wirklichkeit". zumindest nicht in dem sinne, wie "x besteht aus p". wir haben es im grunde mit einer konjunktion zweier verschiedener sätze zu tun. der eine satz ist "x hat seinem vorgesetzten widersprochen". diesem satz läßt sich ein wahrheitswert zuweisen; denn entweder tat er es oder er tat es nicht.
im weitesten sinne wäre dieser teilsatz ein satz über die wirklichkeit, also darüber, dass jemand etwas getan hat.
den ersten teil halte ich für problematisch.
was für ein satz ist das: "er hat mut gezeigt" ?
besonders in verbindung mit dem teilsatz "er hat seinem vorgesetzten widersprochen", der dazu dient, den ersten näher zu erläutern, wird die ganze konjunktion problematisch.
gesetzt den fall der zweite teilsatz ist wahr, also x hat seinem vorgesetzten widersprochen - wird dadurch der erste teilsatz automatisch wahr?
kann man dem ersten teilsatz überhaupt einen wahrheitswert zuschreiben?
vereinfachen wir den ersten teilsatz zu "x war mutig" und fassen den zweiten teilsatz als ergänzugng zum ersten; schreiben wir den komplex als "x war mutig, indem er seinem vorgesetzten widersprochen hat".
gehen wir ferner davon aus, dass der zweite teilsatz stets wahr ist. folgt daraus irgendetwas für den ersten teilsatz? ist "mutig", wer seinem vorgesetzten widerspricht? möglicherweise, aber nicht notwendigerweise. man kann seinem vorgesetzten auch aus dummheit widersprechen - ohne zu wissen, was man tut. d. h. man hatte nicht den anspruch, mutig zu sein.
dennoch kann es sein, dass man für "mutig" angesehen wird. aber zu recht?

Zitat:

Er hat sich vorbildlich verhalten und seinem Vorgesetzten widersprochen


nicht wesentlich anders verhält es sich mit diesem komplex. analog zum ersten satz kann man auch hier formulieren "x hat sich vorbildlich verhalten, indem er seinem vorgesetzten widersprochen hat."

etwas weiter gegriffen könnte man beide sätze auch so umformulieren, dass man sagt, a glaubt P, weil Q={" x hat seinem vorgesetzten widersprochen" }. dann hätten wir einen satz, wo einerseits x etwas getan hat, und andererseits einen satz P, der eine einschätzung des verhaltens von x ausdrückt. diese einschäzung impliziert ein urteil der art:
(I)Alle n die ihrem vorgesetzten widersprechen, verhalten sich vorbildlich/beweisen mut.
(II)x widerspricht seinem vorgesetzten
folglich verhielt sich x vorbildlich/bewies x mut.
und der erste satz (I), gibt schon grund zum zweifel.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 05. Nov. 2004, 07:58 Uhr

Hallo Thomas!

Du machst die Sache unnötig kompliziert.

Sind "mutige Handlungen" etwas Wirkliches? Zweifellos ja, wenn klar ist, woran man sie erkennen kann. Wird es ferner zu den Merkmalen von "Mut" gezählt, seinen Vorgesetzten zu widersprechen, dann ist der fragliche Satz wahr.
Eine "notwendige" Verknüpfung zwischen verschiedenen Prädikaten kann es ohnehin nur bedingt geben, nämlich abhängig davon, wie sie verstanden (d. h. definiert) werden.  

Nicht anders verhält es sich mit dem zweiten Satz.

Der Umstand, dass es "Ansichtssache" ist, worin Mut oder Vorbildlichkeit - als Eigenschaften von Handlungen - bestehen, bereitet keinerlei Probleme. Wahr sind Zuschreibungen von Eigenschaften grundsätzlich nur, wenn Sprecher und Adressaten dasselbe unter dieser Eigenschaft verstehen und wenn sie wissen, woran sie sie in einem gegebenen Fall erkennen können.  

Gruß
H.

- II
- Eberhard am 05. Nov. 2004, 12:02 Uhr

Hallo allerseits,

um die Komplikationen zu vermeiden, die Thomas mit den Beispielsätzen hatte, vereinfache ich die Sätze und formuliere sie um in die Sätze: "Er hat mutig gehandelt" und "Er hat vorbildlich gehandelt" (jeweils bezogen auf ein bestimmtes Handeln, über dessen Vorliegen Einigkeit besteht).

Es geht um die Frage, ob diese Sätze etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagen oder nicht. Damit zusammen hängt die Frage, ob solche Sätze wahr sein können.

Auf jeden Fall kann man mit solchen Sätzen auf Zustimmung stoßen (" Das stimmt!" )  oder auch auf  Widerspruch (" Das sehe ich aber ganz anders!" )

Ich stimme mit Hermeneuticus überein, dass es darauf ankommt, woran man erkennen kann, dass die betreffende Handlung eine bestimmte Eigenschaft besitzt. Und auch Thomas fragt nach der Bedeutung des Wortes "mutig".

Was meinen wir, wenn wir eine Handlung als "mutig" bezeichnen? Wie ist das Wort "mutig" definiert?

Ich finde im Wörterbuch für das Wort "mutig" die Erläuterung: "tapfer, ohne Furcht". Ich sehe unter "tapfer" nach und finde die Erläuterung: "mutig, furchtlos, kühn".

Zirkeldefinitionen, bei denen das Wort "mutig" mit dem Wort "tapfer" erläutert wird, und das Wort "tapfer" mit dem Wort "mutig", sind natürlich wenig hilfreich.

Nützlicher ist da schon der Bezug zur Furcht. Das Wort "Furcht" wird erläutert als "das Gefühl, von etwas Bestimmtem bedroht zu werden".

Wie man sieht, ist die Bedeutung des Wortes "mutig" nicht besonders präzise festgelegt. Man könnte eventuell "mutiges Handeln" definieren als "ein Handeln unter Überwindung der Furcht vor einer damit verbundenen Gefahr". Der Handelnde muss also die mit der Handlung verbundene Gefahr kennen, er muss sie fürchten und er muss – unter Überwindung seiner Furcht - die Handlung trotzdem ausführen.

Ob jemand die mit einer Handlung verbundene Gefahr kennt, ob er diese fürchtet und ob er die Handlung ausführt: all das sind Merkmale, deren Existenz man durch empirische Untersuchung feststellen könnte. Insofern wäre der Satz "Er hat mutig gehandelt" eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, in diesem Fall über das Handeln einer bestimmten Person.

Nach dieser Definition wäre es allerdings auch "mutig", wenn jemand das noch dünne Eis eines Sees betritt: er kennt die mit der Handlung verbundene Gefahr, und er führt sie trotzdem aus.

Wenn jedoch dies Handeln nicht als "mutig" sondern als "leichtsinnig" bezeichnet wird, dann stellt sich die Frage, was der Unterschied zwischen einer "mutigen" und einer "leichtsinnigen" Handlung ist.

Wenn ein Angestellter seinem Chef widerspricht, als dieser einen andern Mitarbeiter zu Unrecht für einen Fehler verantwortlich macht, nennen wir das "mutig". Wenn ein Angestellter häufiger zu spät zur Arbeit kommt, so nennen wir das "leichtsinnig". Beide gefährden damit bewusst ihre Anstellung.

Wenn es kein feststellbares Merkmal gibt, das mutiges Handeln von leichtsinnigem handeln unterscheidet, und wenn es stattdessen so ist, dass man von "mutigem" Handeln nur spricht, wenn man das betreffende Handeln befürwortet, dann beschreibt man mit dem Satz "Er hat mutig gehandelt" nicht nur einen bestimmten Sachverhalt, sondern drückt zugleich dessen Befürwortung aus. Etwas zu befürworten beinhaltet aber, dass etwas sein soll. Insofern wird in dem Satz "Er hat mutig gehandelt" nicht nur gesagt, wie die Welt ist sondern auch, wie sie sein soll.

Bei dem Satz "Er hat vorbildlich gehandelt" ist noch deutlicher, dass damit keine Aussage über die Wirklichkeit gemacht wird, wie sie ist, sondern dass damit formuliert wird, wie gehandelt werden soll. Ein "Vorbild" ist etwas, das man nachahmen sollte. Zu sagen "Dies Handeln ist vorbildlich" enthält keinerlei Information darüber, wie jemand gehandelt hat, es bedeutet lediglich: "So wie diese Person gehandelt hat, so sollten alle Handeln!"

meint Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 05. Nov. 2004, 14:36 Uhr

hallo ihr beiden,

das problem, das ich in den sätzen gesehen habe, läßt sich vielleicht anhand eines anderen beispiels erklären.
wir stellen uns folgende situation vor:

in dunkler nacht geht A eine häuserwand entlang. die straßenbeleuchtung ist dürftig.
B geht am selben haus an einer anderen wand entlang. beide hauswände bilden zur straße hin eine hausecke.
ich sitze mit meinem freund im café und beobachte mit einem auge die hausecke. ich sehe wie B kurz vor der ecke stoppt. ich verfolge das geschehen für kurze zeit nicht, sehe allerdings wie A an der hausecke entlanggeht und plötzlich B ihm in die quere kommt. ich sehe A zusammenzucken, werfe dann allerdings einen blick in meine leere kakaotasse, und als ich wieder aufsehe umarmen sich A und B und klopfen sich gegenseitig auf die schulter, um nach kurzer zeit zusammen weiterzugehen.
ich sage zu meinem freund: »hast du das gesehen, da hat B doch glatt A erschreckt.«

inwiefern ist dieser satz ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit? ich denke, dass in diesem punkt kein klärungsbedarf wegen des wortes "erschrecken" herrscht. zumindest kein offensichtlicher.
ob eine handlung mutig ist, oder nicht, mag ja ansichtssache sein. aber "jemanden erschrecken" dürfte weniger ansichtssache sein. das gegebene szenario könnte einem spiel entstammen, dass da lautet: "jemanden erschrecken".

wir können den sätzen "A geht eine häuserwand entlang" und "B geht eine häuserwand entlang" ohne probleme den wert wahr zuschreiben.
ebenso wie "A und B umarmen sich" und "A und B gehen anschließend zusammen weiter".
problematisch empfinde ich den satz "B erschreckt A". weniger problematisch -cum grano salis- ist der satz "A hat sich erschrocken".
diesen satz können wir erläutern: »ich habe A beobachtet und alle anzeichen deuten darauf hin, dass A sich möglicherweise erschrocken hat. es ist möglich, dass er nur so tut, als habe er sich erschrocken. es sah zumindest echt aus.« also ist der satz, dass A verhaltensweisen eines erschrockenen zeigt -cum grano salis- empirisch überprüfbar.
für schwieriger halte ich aussagen bezüglich B.
kann man anhand des ablaufs sagen, B hatte die absicht A zu erschrecken? gut, hätte man ihn gefragt, hätte er vielleicht geantwortet, dass er tatsächlich die absicht hatte, A zu erschrecken.

wovon hängt der wahrheitswert von "B erschreckt A" ab?
zumindest von anderen bedingungen, als "A hat sich erschrocken, als er auf B traf."
es ist möglich, dass beide uns ein spiel vorführen, das "jemanden erschrecken" heißt. dazu müssen beide gewisse verhaltensweisen an den tag legen.
hätten wir das spiel "jemanden erschrecken" in einem stummfilm gesehen, so hätten wir auf der einen seite A gehabt, der uns signalisiert ich bin "nichtsahnend". wir hätten seinen spitzen mund gesehen, hätten gesehen, wie er in der gegend herumgukt; auf der anderen seite hätten wir B gesehen, wie er hämisch grinsend um die ecke schaut, auf seine uhr schaut, sich die hände reibt - er hätte uns signalisiert: »ich warte. und ich führe nichts gutes im schilde«.
wäre es dann zum zusammentreffen gekommen, so hätte B die arme gereckt und ein scheußliches gesicht gemacht. A hätte versucht, sich ein wenig zurückzulehnen, hätte die augen weit aufgerissen.
B hätte signalisiert "ich erschrecke jemanden" und A hätte im gegenzug signalisiert "ich werde gerade von jemandem erschreckt".
mit ähnlichem würde man kindern erklären, wie "jemanden erschrecken" funktioniert.

aber der satz "B hat A erschreckt" im sinne "B hat A absichtlich erschreckt" ist schwieriger zu beantworten. für die frage nach dem wahrheitswert ergibt sich:
(I) A und B wußten beide voneinander und haben "jemanden erschrecken" gespielt. also ist der satz "B hat A erschreckt" falsch, weil sich A nicht erschrocken hat, sondern nur so getan hat als ob. die absicht von B ist in dem fall irrelevant.
(II) A und B wußten nichts voneinander
und der einfachheit halber hat sich A tatsächlich erschrocken
a) möglicherweise hatte B die absicht, A zu erschrecken, dann wäre der satz "B erschreckt A" uneingeschränkt wahr. es wäre ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit.
b) möglicherweise hatte B nicht die absicht A zu erschrecken, dann wäre der satz "B erschreckt A" nur eingeschränkt wahr. wir müßten dann sagen "B erschreckt A versehentlich".

damit der satz uneingeschränkt falsch ist, ist es notwendig, dass A und B die absicht hatten, uns ein spiel vozugaukeln.
damit der satz zumindest eingeschränkt wahr ist, ist es notwendig, dass zumindest A sich erschrocken hat, und es ist möglich, dass B auch die absicht dazu hatte.
um aber zu sagen, dass der satz uneingeschränkt wahr ist, ist es notwendig, dass A sich erschrocken hat, und es ist notwendig, dass B die absicht dazu hatte.

und nun die spannende frage: woran erkennen wir Bs absicht?

auf die frage nach dem "mutigen handeln" müßte man unterscheiden, zwischen dem, der mutig handelt, und die absicht hatte, mutig zu handeln, und dem dessen handlen "mutig" genannt wird, der aber versehentlich so gehandelt hat. (implizit setze ich  einmal eine eindeutige verwendung für "mutiges handeln" voraus).

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 05. Nov. 2004, 17:20 Uhr

Hallo Eberhard!

Zitat:

Was meinen wir, wenn wir eine Handlung als "mutig" bezeichnen? Wie ist das Wort "mutig" definiert?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Bedeutung eines Wortes zu präzisieren. Am sichersten dürfte es bei umgangssprachlichen Begriffen sein, wenn man sie zunächst mit ihrem offensichtlichen Gegenbegriff konfrontiert und sie dann von Synonymen abgrenzt - so wie Du es mit "mutig" vorführst.

Auch in strengeren semantischen Systemen als der Umgangssprache lässt sich leicht feststellen, dass mit der Einzelwort-Definition noch nicht viel getan ist. Wir verstehen Begriffe erst richtig, wenn wir sie in Gebrauch sehen - nämlich im Zusammenwirken mit ihren Gegenbegriffen - und vor allem auch: wenn wir absehen, welche Folgerungen sich aus einer bestimmten Definition ergeben.
(So ist es etwa auch, wenn wir ein neues Spiel lernen. Nach der Lektüre der Spielregeln sind wir eigentlich eher verwirrt. Erst nach ein, zwei Probespielen verstehen wir dann auch die ausformulierten Regeln - und können sie dann in Zweifelsfällen zu Rate ziehen.)

Zitat:

Wie man sieht, ist die Bedeutung des Wortes "mutig" nicht besonders präzise festgelegt.

Es fragt sich aber, ob Präzision ein Selbstzeck ist oder ob es nicht vielmehr vom jeweiligen Handlungszusammenhang und den angestrebten Zielen abhängt, wieviel Präzision überhaupt nötig ist.

Aussagen aus dem Alltag müssen nicht wissenschaftlichen Standards standhalten, um das Prädikat "wahr" zu verdienen. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Präzision des Gemeinten/Verstandenen, sondern auch hinsichtlich des Allgemeinheitsgrades der jeweils erhobenen Geltungsansprüche. Wenn ich sage: "Ich habe Kopfschmerzen", will ich davon nicht die ganze Welt überzeugen. Für mich und diejeingen Personen, zu denen ich das sage, ist das trotzdem ein wahrer Satz (wenn ich nicht lüge, versteht sich).

Dieser Punkt ist mir deshalb wichtig, weil es einen gewissen Zusammenhang von wahren Aussagen und Wirklichkeit gibt. Und wenn als "wirklich" nur solche Gegenstände gelten dürfen, über die man wahre Aussagen nach WISSENSCHAFTLICHEN Standards machen kann, dann wird m.E. die Welt in vielen Bereichen auf den Kopf gestellt.

Zitat:

Bei dem Satz "Er hat vorbildlich gehandelt" ist noch deutlicher, dass damit keine Aussage über die Wirklichkeit gemacht wird, wie sie ist, sondern dass damit formuliert wird, wie gehandelt werden soll. Ein "Vorbild" ist etwas, das man nachahmen sollte. Zu sagen "Dies Handeln ist vorbildlich" enthält keinerlei Information darüber, wie jemand gehandelt hat, es bedeutet lediglich: "So wie diese Person gehandelt hat, so sollten alle Handeln!"


So klar und unproblematisch, wie Du sie hier gebrauchst, ist die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen nicht.

Selbstverständlich enthält der Satz "Dies Handeln ist vorbildlich" eine Aussage darüber, wie jemand gehandelt hat: nämlich in Einklang mit bestimmten Erwartungen, Normen, Werten, die - mindestens - vom Sprecher geteilt werden.

Umgekehrt hat jemand auch einen Mord in der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit begangen - wenn nämlich in dieser Gesellschaft die Tötung anderer Menschen aus niedrigen Motiven OBJEKTIV als ein schweres Verbrechen angesehen wird.

Die Normen, die der Mörder verletzt, sind konstitutiver TEIL der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie bestimmen diese in ihrem Sosein.

Jeder, der z. B. Beamter oder Arzt werden will, weiß, dass mit der Ausübung dieses Berufs - also mit der Institution - ganz bestimmte Pflichten OBJEKTIV verbunden sind. Ein Arzt muss sogar durch Schwur versichern, dass er diesen Pflichten stets nachkommen wird, bevor er WIRKLICH Arzt IST (d. h. die ärztliche Tätigkeit in der Gesellschaft aufnehmen darf).


Ein Vorbild lässt sich nicht auf eine Sammlung von expliziten Vorschriften reduzieren. Es existiert ALS Vorbild. d. h. es ist eine intersubjektiv wahrgenomme und intersubjektiv anerkannte INSTANTIIERUNG von normenkonformem, erwünschtem oder angestrebtem Verhalten.
Es leuchtet mir nicht ein, dass die BEFOLGUNG von Normen, dass das GELINGEN einer angestrebten Praxis usw. ALS SOLCHE nicht Teil der menschlichen Wirklichkeit sein soll.

Es gibt viele Bereiche kultureller Wirklichkeit, in denen wir bestimmte Fertigkeiten ohne Vorbilder nie erwerben könnten. Was z.B guter Stil ist, lässt sich ohne Beispiele (= Vorbilder) gar nicht angemessen demonstrieren. Und es dürfte kaum ein Handwerk, eine Kunst oder eine ausgefeilte Technik geben - und hier schließe ich Messkunst und die Labortechnik der Wissenschaftler unbedingt mit ein! -, die ohne Vorbilder hinreichend erlernt werden könnte.

Ja, ich denke, dass das Lernen durch Vorbilder eine so selbstverständliche und grundlegende kulturelle Wirklichkeit ist, dass eher der Gegenbeweis erbracht werden müsste: ob es nämlich überhaupt möglich ist, die Befolgung von Vorschriften oder Regeln OHNE bereits existierende Vorbilder zu lernen.

(Ich kenne das Gegenargument schon: Die "Geltung" von Normen sei zu trennen von ihrer praktischen Umsetzung... Aber was ich hier bestreite, ist gerade eine irgendwo in den normativen Aussagen steckende, vom Handeln der Menschen abgelöst schwebende "Geltung". So habe ich in diesem Thread auch schon bestritten, dass eine deskriptive Aussage einen "allgemeinen Geltungsanspruch" erhebe. "Ansprüche" werden - MITTELS AUSSAGEN - von faktischen Menschen an faktische Menschen gerichtet. "Geltung" oder "Geltungsansprüche" wie eine Eigenschaft von Sätzen zu betrachten, ist wirklichkeitsfremd.)

Gruß
H.

PS.

Ist dies ein Satz über die Wirklichkeit, wie sie ist? "Herr Meier hat sich vorschriftsmäßig verhalten."


Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 05. Nov. 2004, 19:48 Uhr


on 11/05/04 um 17:34:18, Hermeneuticus wrote:

PS.

Ist dies ein Satz über die Wirklichkeit, wie sie ist? "Herr Meier hat sich vorschriftsmäßig verhalten."


Gruß
H.




insofern ja, als dass herr meier irgendwie gehandelt hat, und dieses handeln vom sprecher der aussage, mit "vorschriftsmäßig" beurteilt hat.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 05. Nov. 2004, 23:34 Uhr

Hallo Thomas!

Herr Meier hat offenbar nicht "irgendwie" gehandelt. Und der Sprecher hat ihn dabei auch nicht beobachtet wie ein Ethologe das befremdliche Paarungsverhalten einer noch wenig bekannten Spezies.

Offenbar gehören Herr Meier und der Sprecher beide dem Menschengeschlecht an, ja wohl auch demselben Kulturkreis. Als Menschen wissen sie von einander, dass jeder zu absichtlichem, zurechenbarem Handeln fähig ist. Als Angehörige desselben Kulturkreises teilen sie überdies das Wissen darüber, welche Vorschriften hier bei gewissen Gelegenheiten gelten.  

Zu einem solchen Wissen gehört selbstverständlich die Fähigkeit, richtiges vom falschen Handeln zu unterscheiden, und zwar - und das ist sehr wichtig! - nicht nur beim eigenen Handeln, sondern auch beim Handeln anderer. Ist eine solche intersubjektive Unterscheidungsfähigkeit vorauszusetzen, so ist dann auch der Unterschied zwischen normenkonformem und abweichendem Handeln ein intersubjektiver, d. h. in der Wirklichkeit "gegebener", insofern wahrnehmbarer oder objektivierbarer Unterschied. (Wäre dem nicht so, müssten alle Gerichte sofort dicht machen.)

Welche Normen in einer bestimmten Gesellschaft gelten, ist ganz offenbar ein Gegenstand des Wissens. d. h. diese Normen sind Teil der Wirklichkeit dieser Gesellschaft, über den sich wahre oder falsche Aussagen machen lassen.

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 06. Nov. 2004, 02:54 Uhr

Hallo Thomas!

Wir schreiben nur Menschen die Fähigkeit zum überlegten, zielgerichteten, abischtlichen Handeln zu. Nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil wir Menschen im Zweifelsfall nach ihren Absichten fragen können.

Die Perspektive eines völlig unbeteiligten Beobachters kommt zwischen Menschen durchaus vor, ist aber wohl nicht die Regel. Wie sich im Kino oder im Theater zeigt, sind selbst fiktionale Handlungen - von denen wir wissen, DASS sie bloß zu unserem Vergnügen erfunden wurden, und denen wir also gaaaanz cool, ganz teilnahmslos achselzuckend zuschauen könnten - geeignet, uns zu emotional Beteiligten zu machen. Wir "identifizieren" uns mit den Kunstfiguren. Wir verstehen ihre Gefühle, Ziele und Konflikte, haben Ähnliches vielleicht schon erlebt usw.

Es scheint, dass wir, wenn wir anderen Menschen zusehen, uns eher Mühe geben müssen, möglichst unbeteiligt oder - wie man irreführend sagt - "objektiv" zu bleiben. Irreführend deshalb, weil wir in der Situation des unbeteiligten Beobachters, der keine Vorkenntnisse mitbringt, unsere spezifisch MENSCHLICHE Wirklichkeit nicht am angemessensten beurteilen. Der kognitive Haltung des Naturforschers ist hier nicht das Ideal, das uns am besten Aufschluss über diese Art von Wirklichkeit gibt.

Zitat:

und nun die spannende frage: woran erkennen wir Bs absicht?


Ich weiß nicht, ob es für einen unbeteiligten Beobachter sichere Kriterien gibt, um absichtliches von unabsichtlichem Tun zu unterscheiden. Und Du setzt in Deinem Beispiel genau genau diese Position voraus.
Hinzu kommt, dass wir, denen Du die Situation zur Beurteilung vorlegst, nur eine dürre Beschreibung haben. Hätten wir eine Video-Aufnahme, die wir uns wiederholt anschauen könnten, wären unsere Chancen schon erheblich besser, auf Deine Frage zu antworten.

Im persönlichen Umgang können wir in der Regel absichtliches Handeln gut erkennen. Dass es Grenzfälle und die Möglichkeit des Irrtums gibt (besonders in Situationen, die aus der Alltagroutine herausragen - wie Verbrechen, Unfälle, Kontakt mit fremden Kulturen...), ist unbestritten.

Zitat:

auf die frage nach dem "mutigen handeln" müßte man unterscheiden, zwischen dem, der mutig handelt, und die absicht hatte, mutig zu handeln, und dem dessen handlen "mutig" genannt wird, der aber versehentlich so gehandelt hat.

Man könnte auch zunächst einmal genauer überlegen, was wir mit "Absicht" meinen und wo wir uns auf die Suche nach den Kriterien für absichtliches Handeln machen. Und da möchte ich gleich von vornherein davon abraten, auf so etwas wie "intentionale Zustände" zurückzugreifen.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 06. Nov. 2004, 10:02 Uhr

hi hermeneuticus,

Zitat:

Und da möchte ich gleich von vornherein davon abraten, auf so etwas wie "intentionale Zustände" zurückzugreifen.

das sehe ich genauso.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 06. Nov. 2004, 18:01 Uhr

Hallo Thomas,

Bei deinem Beispiel: "jemanden erschrecken" geht es meiner Ansicht nach nicht um die Frage, ob es sich bei dem Satz: "B hat A erschreckt" um eine Aussage über die Wirklichkeit handelt - dies ist wohl nicht zu bezweifeln - sondern um die Frage, wie man feststellt, ob dieser Satz über die Realität wahr oder falsch ist.

Man kann jemandem auch ohne Absicht einen Schreck einjagen. A: "Da hast du mir aber einen Schreck ein gejagt!" B: "Oh, das wollte ich nicht. Tut mir leid!"

Wie man feststellen kann, ob jemand eine Handlung absichtlich getan hat, ist ein spezielles Problem von Aussagen über die Psyche eines anderen Menschen.

Ich würde allerdings vorerst gerne bei dem Problem der Abgrenzung von positiven bzw. empirischen Aussagen gegenüber Werturteilen bleiben.

Hallo Hermeneuticus,

Du schreibst: "Selbstverständlich enthält der Satz 'Dies Handeln ist vorbildlich' eine Aussage darüber, wie jemand gehandelt hat: nämlich in Einklang mit bestimmten Erwartungen, Normen, Werten, die - mindestens - vom Sprecher geteilt werden."

Aber handelt es sich deshalb um eine Aussage über die Beschaffenheit des betreffenden Handelns?

Wenn Individuum A in Bezug auf die Aufgabe seines Sitzplatzes durch B behauptet: "Das Handeln von B ist vorbildlich" und wenn es für A als vorbildlich gilt, dass in einem öffentlichen Verkehrsmittel der Jüngere dem Älteren seinen Sitzplatz anbietet, dann muss für A auch der Satz wahr sein: "B hat einem Älteren seinen Sitzplatz angeboten".

Der letzte Satz ist zweifellos ein Satz über die Wirklichkeit.

Aber deshalb ist der Satz "Das Handeln von B ist vorbildlich" keine Aussage über die Wirklichkeit. Der Handlung (B steht von seinem Sitzplatz auf und sagt zu einem älteren Fahrgast; "Bitte! Wollen Sie sich setzen?" ) kann man nicht anmerken, dass sie vorbildlich ist. Die Eigenschaft "vorbildlich" ist keine wirkliche Eigenschaft der Handlung.

Es grüßt Euch und alle andern, die reflektieren, was sie sagen, Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 06. Nov. 2004, 21:37 Uhr

Hallo Eberhard!

Mir scheint, wir müssen doch einmal klären, was wir unter "Wirklichkeit" verstehen. Dabei sollten wir aber nicht den Wahrheitsbegriff voraussetzen - etwa indem wir sagen: "Wirklichkeit ist das, worüber sich wahre oder unwahre Aussagen machen lassen."

Mir scheint, wenn ich Deinen letzten Beitrag lese, da schon Klärungsbedarf zu bestehen:

Zitat:

Aber deshalb ist der Satz "Das Handeln von B ist vorbildlich" keine Aussage über die Wirklichkeit. Der Handlung (B steht von seinem Sitzplatz auf und sagt zu einem älteren Fahrgast; "Bitte! Wollen Sie sich setzen?" ) kann man nicht anmerken, dass sie vorbildlich ist. Die Eigenschaft "vorbildlich" ist keine wirkliche Eigenschaft der Handlung.

Was meinst Du mit: "Man kann dieser Handlung nicht ANMERKEN..." ?
Du scheinst vorauszusetzen, dass "man" hier ein neutraler, außenstehender Beobachter in dem Sinne ist, dass er nicht weiß, welche Normen in der gegebenen Situation gelten. "Man" könnte z. B. Besucher aus einer anderen Kultur sein oder ein Naturforscher, der nicht Kulturmenschen vor Augen hat, sondern irgendwelche Lebewesen oder physikalischen Objekte. Ein solcher Beobachter hat eine andere "Wirklichkeit" vor Augen als die am Handlungszusammenhang Beteiligten. Den Beteiligten jedenfalls ist klar, dass in dieser Situation bestimmte Normen einschlägig sind, und diese Normen bestimmen ihr Bild der Wirklichkeit, in der sie sich befinden.

Für mich ist klar, dass ich von MENSCHLICHER Wirklichkeit spreche, die eine Wirklichkeit des (gemeinschaftlichen) HANDELNS ist. Außerdem ist für mich klar, dass es kein menschliches Handeln gibt, das "wertneutral" wäre - das also nicht in der einen oder anderen Weise zielgerichtet, zweckmäßig, geregelt, normiert... wäre. Zwar mag es innerhalb einer Kultur Handlungen geben, die nicht unter irgendwelche Vorschriften fallen, die also weder ausdrücklich verboten oder erlaubt sind noch als irgendwie wertvoll gelten (die sog. "adiaphora" der Stoiker). Aber das liegt dann an den speziellen normativen Aussparungen DIESER Kultur.

Will sagen: Man kann nicht erst einmal "Handlung an sich" bestimmen als ein so und so beschaffenes Stück der Wirklichkeit und dann sehen, ob es in dieser oder jener Kultur einer besonderen Wertung unterliegt. Wertungen kommen nicht als äußerliche Zutat zum Handeln hinzu (und könnten daher auch weggelassen werden, ohne an der Wirklichkeit etwas zu verändern). Vielmehr ist es ein definiens von Handlung, dass es im Hinblick auf Ziele bewertet werden kann - weil es nämlich immer auch zielgerichtet vollzogen wird.
Anders gesagt: Ich sehe einen klaren Unterschied zwischen Handlung und VERHALTEN.

Beispiel: Wenn ich am Tisch sitze und mit dem Messer an einem Stück Fleisch herumsäbele, es mir in den Mund schiebe, gründlich kaue... dann ist dies eine Handlung, die hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit und der Form ihrer Ausführung beurteilt werden kann. (Es ist unzweckmäßig, ein zu großes Stück in den Mund zu schieben, außerdem unfein, darauf mit vollen Backen herumzumampfen.)
Was mein Körper nach dem Schlucken mit dem Fleisch macht - er verdaut es - , liegt nicht mehr im Bereich meines Einflusses, ist insofern kein Handeln, sondern Verhalten.

Ich setze voraus, dass menschliches Handeln immer in der einen oder anderen Weise kulturell geformt (und damit auch bewertet) ist, denn es ist immer in der einen oder anderen Weise erlernt. Und damit ist auch klar, dass in der spezifisch MENSCHLICHEN Wirklichkeit Sein und Sollen nicht a priori geschieden sind. Menschliches Handeln ist nicht ein Naturvorgang mit kultureller "Verpackung".

Gruß
H.

- II
- Eberhard am 07. Nov. 2004, 10:20 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

es geht um die Frage, ob der Satz "" Das Handeln von B ist vorbildlich" eine Aussage über die Wirklichkeit ist. Die Handlung, auf die sich dieser Satz bezieht ist, bestand in Folgendem: B steht von seinem Sitzplatz auf und sagt zu einem älteren Fahrgast; "Bitte! Wollen Sie sich setzen?"

Ich halte die Beantwortung dieser Frage für außerordentlich wichtig und ich bin der Meinung, dass mit der Verneinung dieser Frage der entscheidende Schritt zur neuzeitlichen Wissenschaft vollzogen wurde, mit all seinen - auch problematischen – Konsequenzen. Es geht um die analytische Unterscheidung zwischen Sätzen, die besagen, WAS IST, und Sätzen, die besagen, was GUT IST bzw. was SEIN SOLL.

Damit verbunden ist die Auffassung, dass nur das was ist, wahrnehmbar bzw. beobachtbar ist, während das, was gut ist oder sein soll, etwas zu Verwirklichendes und insofern Ausdruck eines Wollens ist.

Kehren wir zu unserm Beispiel zurück. Der reale Vorgang ist der Folgende:

B steht von seinem Sitzplatz auf und sagt zu einem älteren Fahrgast: "Bitte! Wollen Sie sich setzen?"

Angenommen, zwei Individuen, P und O, beobachten diesen Vorgang und haben die Aufgabe, zu beschreiben, was geschieht. In der Beschreibung von P findet sich der Satz: "Das Handeln von B ist vorbildlich". In der Beschreibung von O fehlt ein entsprechender Satz.

P wird gefragt, woran man erkennen kann, dass das beobachtete Handeln vorbildlich war. Was kann P dann antworten? Worauf stützt er diese Aussage?

P sagt eventuell: "Aber das sieht man doch, dass B vorbildlich gehandelt hat!"

Darauf O: "Ich habe nichts derartiges gesehen. Was bedeutet denn das Wort 'vorbildlich' für Dich?"

P: "Ich meine mit 'vorbildlich' ein Handeln, das so ist, dass andere es sich zum Vorbild nehmen und nachmachen sollen."

O: "Ich bin aber nicht der Meinung, dass man für jemanden seinen Sitzplatz räumen sollte, nur weil dieser älter ist. Was anderes ist es, wenn Gebrechliche, Schwangere oder Eltern mit Kleinkindern stehen müssen. Insofern drückst Du mit der Bezeichnung der Handlung als 'vorbildlich' eine bestimmte moralische Stellungsnahme zu dem Handeln aus, aber Du beschreibst keine Eigenschaft des Handelns, wie es ist."

Soweit ein möglicher Dialog.

Ich habe bewusst ein Beispiel gewählt, wo es keine "einschlägige" moralische Norm gibt, weil hier in den letzten Jahrzehnten ein Wandel der Auffassungen stattgefunden hat.

Das Verständnis von Handlungen als mit Absichten, Wertungen, etc verbundenes Verhalten stellt O mit seiner Position dabei nicht in Frage.

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 07. Nov. 2004, 10:31 Uhr

hallo ihr beiden,

ich stimme mit eberhard darin über ein, dass werturteile in dem sinne keine aussagen über eine so und so beschaffene wirklichkeit sind. wir sollten den begriff der wirklichkeit nicht überstrapazieren.
vielleicht wäre es sinnvoll in einem falle von der wirklichkeit zu sprechen und im anderen falle, wirklichkeit durch atrribuierung von "sozial", mit sozialer wirklichkeit davon abheben. ich denke, dass so auch hermeneuticus zum zuge kommt.
wir sollten dann auch nicht "von der beschaffenheit der wirklichkeit" sondern vielmehr von "sozialen realitäten" oder soetwas sprechen.
eine handlung, die sich so und so abgespielt hat, impliziert, wenn wir von der "beschaffenheit der wirklichkeit" reden, keine wertung. der ansatz, dass ein wertendes subjekt -für die diskussion nenne ich so einen menschen, der sagt, das und das ist gut/schlecht o.ä.- an aussagen über die wirklichkeit beteiligt ist, führt meiner ansicht nach in die irre.
warum? die frage von dem, wie etwas beschaffen ist, verschieden von der frage ist, welchen wert hat das für mich. man kann z. B. das wissenschaftliche vorgehen in vielen punkten kritiseren; dass z.b ein zusammenhang besteht zwischen den gebieten die wissenschaftler erforschen und gesellschaftlicher nutzbarkeit, insofern, dass die frage nach der verwertung, wie man gewonnene erkenntnisse nutzen kann, die richtung bestimmt, in welcher geforscht wird. allerdings ist darauf zu achten, dass, auch wenn es soziale bedingungen gibt, unter denen forschung betrieben wird, die aussagen, insofern sie wahre aussagen über die wirklichkeit sind, davon unberührt bleiben. - ich schweife wiedereinmal ab.

dass eine handlung "vorbildlich", "mutig", etc. ist, ist keine aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit, sondern vielmehr eine aussage die von sozialem kontext, und somit von sozialer wirklichkeit abhängig ist, und zugleich rückschlüsse über diese zuläßt.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 07. Nov. 2004, 11:24 Uhr

Hallo Eberhard, hall Thomas!

Eure Antworten drücken sich um die Beantwortung der Frage, ob Handlungen ein Teil der Wirklichkeit sind.

Bevor ihr Euch auf wissenschaftliche Vorentscheidungen oder Traditionen beruft, solltet ihr bedenken, dass das Betreiben von Wissenschaft aus nichts anderem als menschlichem Handeln besteht. Auch das Sprechen, Argumentieren, das Behaupten, Erkennen... sind Handlungen.

Ich spezifiziere meinen Beispielsatz "Herr Meier hat sich vorschriftsmäßig verhalten" ein wenig.
Herr Meier sei nämlich Physiker, der im Labor ein Experiment durchgeführt hat. Dazu musste er die Apparate nach bestimmten Vorschriften aufbauen und bedienen, er musste Messergebnisse ablesen, aufzeichnen und so auswerten, dass sie im Rahmen einer bestimmten Theorie aussagekräftig wurden. All diese Tätigkeiten hat Herr Meier nach den geltenden Vorschriften durchgeführt, so dass seine Messungen am Ende tatsächlich etwas über die Wirklichkeit, wie sie ist, aussagten. (Hätte er sich nämlich an diese Vorschriften nicht sehr sorgfältig gehalten, wären seine Daten nichtssagend wie eine zufällig Buchstabenfolge.)


Fändet Ihr den Gedanken nicht auch reichlich verschroben, dass Herrn Meiers vorschriftsmäßiges, ja geradezu vorbildliches Tun kein Teil der Wirklichkeit sein soll?
Was ist Herr Meier denn - ein Gespenst?
Seid Ihr Geistergläubige???
[hairstand]

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 07. Nov. 2004, 11:58 Uhr

hallo hermeneuticus,

dazu möchte ich -aus zeitgründen- zwei kurze anmerkungen machen:

(I) dass der herr meier gehandelt hat, ist teil der wirklichkeit (was auch anderes?)
allerdings ist die bewertung des handelns von meier kein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit. wie ich angedeutet habe, wäre es sinnvoller, davon zu sprechen, dass die handlung innerhalb des gegebenen kontextes als vorschriftsmäßig gilt, oder nicht gilt.

(II) wenn herr meier eine versuchsanordnung entsprechend einer geltenden theorie aufbaut, so ist diese formulierung sehr vage. ein chemie-lehrer baut eine versuchsanordnung entsprechend einer anleitung auf, die einen versuch ausschließlich zu demonstrationszwecken nachstellt.
aber inwiefern bauen wissenschaftler einen versuch entsprechend einer anleitung auf?
inwiefern sind kriterien für wissenschaftliches arbeiten eine "theorie" ?

- mfg thomas

p.s.: nein, ich glaube, das wird auch niemand behaupten, dass herr meier ein gespenst ist. und das er so und so handelt auch nicht. nur differenziere ich zwischen präskriptiven/normativen, wie etwas bewertet wird oder sein soll, und deskriptiven, also beschreibenden, sätzen.

- II
- Hermeneuticus am 07. Nov. 2004, 14:12 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

(I) dass der herr meier gehandelt hat, ist teil der wirklichkeit (was auch anderes?)
allerdings ist die bewertung des handelns von meier kein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit. wie ich angedeutet habe, wäre es sinnvoller, davon zu sprechen, dass die handlung innerhalb des gegebenen kontextes als vorschriftsmäßig gilt, oder nicht gilt.


Ja, innerhalb des gegebenen Kontextes. Aber wieso unterscheidet ein solcher Kontext, innerhalb dessen Handlungen als so und so beschaffen beurteilt werden können, sich grundlegend von einem theoretischen Kontext, innerhalb dessen ein Naturgegenstand als so und so beschaffen gilt?
Auch Aussagen über die nicht-menschliche Wirklichkeit, sind - als MENSCHLICHE Aussagen AN MENSCHEN - kontextgebunden (z. B. abhängig davon, wie sie jeweils verstanden werden).  

Es sind schlechterdings empirische, nachprüfbare Behauptungen, dass im Staat x, in der Gruppe y, am Arbeitsplatz z die und die Normen, Regeln, Vorschriften gelten. Ein Gesetz z. B. gilt FAKTISCH, d. h. es ist als solches bekannt und hat Einfluss auf das faktische Handeln der Menschen, für die es gilt.
Und dass jemand im Einklag mit oder im Widerspruch zu einem Gesetz handelt oder gehandelt hat, ist eine Feststellung über die Wirklichkeit.
Wo siehst Du hier den grundlegenden Unterschied zu empirischen Aussagen über das Paarungsverhalten von Tauben?

Es gibt natürlich einen grundlegenden Unterschied: Menschen können Handlungen unterlassen. Verhalten ist dagegen unwillkürlich. Ich kann es unterlassen, ein Huhn zu essen. Aber ich kann es nicht unterlassen, es zu verdauen, wenn ich es gegessen habe.
Aber sind deshalb Vorkommnisse von der Art meines Verdauens wirklicher als Vorkommnisse von der Art des Sprechens oder Mordens?

Zitat:

aber inwiefern bauen wissenschaftler einen versuch entsprechend einer anleitung auf?

Experimente werden mit Apparaten durchgeführt, also mit von Menschen hergestellten und bestimmten Zwecken dienenden Gegenständen. Zu jedem technischen Gerät gibt es eine Bedienungsanleitung, die einzuhalten ist, damit das Gerät auch störungsfrei arbeitet und seinen Zweck erfüllt.
Das gilt natürlich auch für die Versuchsanordnung insgesamt, die so "abgezweckt" sein muss, dass sie Daten zu einer ganz bestimmten Fragestellung ergibt. Ein Mikroskop liefert keine Daten, die zur Messung von Stromstärken brauchbar wären.
Und es ist auch selbstverständlich, dass Messgeräte störungsfrei arbeiten müssen, damit die ablesbaren Daten brauchbar sind. Bei Versuchen zu Demonstrationszwecken dürfen Messungen auch schon mal ungenau ausfallen, wenn das Prinzip des Versuchs trotzdem anschaulich wird. Im "Ernstfall" sind die zu beachtenden Vorschriften sehr viel strenger einzuhalten.

Zitat:

inwiefern sind kriterien für wissenschaftliches arbeiten eine "theorie" ?

Das habe ich nicht gesagt. Umgekehrt: Man erhält nur dann eine Theorie, wenn die Arbeit daran bestimmten (methodischen oder technischen) Vorschriften folgt. z. B. sind die darin verwendeten Begriffe zu definieren (d. h. ihr Gebrauch ist innerhalb der Theorie zu normieren).


Ich denke, schon an diesen knappen Überlegungen wird klar, dass eine wissenschaftliche Aussage über die "Wirklichkeit, wie sie ist", ohne ein bestimmtes, NORMIERTES Handeln gar nicht erst zustande käme. Und was die WISSENSCHAFTLICHKEIT einer solchen Aussage ausmacht, sind - im Vergleich zur Lebenswelt - STRENGERE Normen für den Sprachgebrauch sowie die Ableitung und Begründung von Sätzen. Vom Einhalten dieser Normen hängt die Geltung wissenschaftlicher Aussagen ab.

Damit sich also "Wirklichkeit, wie sie ist" unverfälscht zeigen kann, müssen Menschen handeln, und zwar auf besonders streng normierte Weise handeln. Es gibt also auch hier eine lebhafte innere Wechselwirkung zwischen Präskription und Deskription, zwischen Sollen und Sein. Eins ist (für handelnde Menschen, für wen sonst?) ohne das andere nicht zu haben.


Gruß
H.

- II
- Eberhard am 07. Nov. 2004, 16:08 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

es geht  um die Frage, ob Sätze wie "Er hat vorbildlich gehandelt" oder "Herr Meier hat vorschriftsmäßig gehandelt" Aussagen über die Wirklichkeit sind.

Dahinter steht die allgemeinere Frage der analytischen Unterscheidung zwischen positiven Aussagen und evaluativen bzw. präskriptiven Aussagen, also um die Unterscheidung zwischen "Ist-Sätzen" und "Soll-Sätzen".

Nehmen wir Dein Beispiel: "Herr Meier hat sich vorschriftsmäßig verhalten."

Dieser Satz beziehe sich auf die "Vorschrift zur Durchführung physikalischer Versuche" der "International Scientific Association" vom 01. April 2005. Die darin enthaltenen Vorschriften wie Erstellen eines Protokolls, Unterschreiben des Protokolls durch den Versuchsleiter etc. hat Herr Meier alle befolgt. Insofern war das Verhalten von Herrn Meier vorschriftsmäßig.

Du bist der Ansicht, dass "vorschriftsmäßig" eine Eigenschaft des Verhaltens von Herrn Meier ist. Oder irre ich mich? Um diese Frage geht es.

In Deinem letzten Beitrag stellst Du allerdings die andere Frage, ob Herrn Meiers vorschriftsmäßiges …Tun Teil der Wirklichkeit ist. Das Tun von Herrn Meier hat annahmegemäß real stattgefunden, d. h. er hat das Experiment in einer bestimmten Art und Weise durchgeführt. Das steht jedoch nicht zur Debatte.

Also meine Fragen an Dich:

Bist Du der Ansicht, dass der Satz: "Herr Meier hat sich vorschriftsmäßig verhalten" eine Aussage darüber ist, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?

Und bist Du der Ansicht, dass "vorschriftsmäßig" eine reale Eigenschaft des Verhaltens von Herrn Meier ist?

fragt Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 07. Nov. 2004, 20:48 Uhr

Hallo Eberhard!

Deine Fragen sind leicht zu beantworten:

Zitat:

Du bist der Ansicht, dass "vorschriftsmäßig" eine Eigenschaft des Verhaltens von Herrn Meier ist. Oder irre ich mich? Um diese Frage geht es.

Ein klares Ja.

Aber auch eine (Selbst-)Korrektur: Es geht hier nicht um "Verhalten", sondern um ein bewusstes, zielgerichtetes, zweckmäßiges HANDELN. Der Beispielsatz sollte also korrekt heißen: "Herr Meier hat vorschriftsmäßig GEHANDELT."

Zitat:

In Deinem letzten Beitrag stellst Du allerdings die andere Frage, ob Herrn Meiers vorschriftsmäßiges …Tun Teil der Wirklichkeit ist. Das Tun von Herrn Meier hat annahmegemäß real stattgefunden, d. h. er hat das Experiment in einer bestimmten Art und Weise durchgeführt. Das steht jedoch nicht zur Debatte.

Hier sehe ich einen engen sachlichen Zusammenhang. Denn, wie gesagt, es geht um die Wirklichkeit von HANDLUNGEN, nicht von unwillkürlichen Körperbewegungen oder Ortsveränderungen.

Der Handlungszusammenhang als ganzer ist hier das Experiment. Nun kann ein Experiment gelingen oder scheitern, stattgefunden hat es in beiden Fällen. War es allerdings erfolgreich, hat es also etwa eine bestimmte Annahme über die Wirklichkeit bestätigt, dann folgt aus diesem Gelingen, dass der Experimentator vorschriftsmäßig gehandelt, dass er das Experiment also korrekt durchgeführt haben muss.

Im Falle des Scheiterns wäre die erste Frage, ob es an der experimentellen Anordnung, an Störungen in den Apparaten oder ihrer unsachgemäßen Bedienung, z. B. falschem Ablesen, gelegen hat. Erst wenn diese Fehlerquellen sicher ausgeschlossen wären, könnte das Ergebnis des Experiments als eine Widerlegung der Theorie angesehen werden. (Aber auch dann wäre das Experiment gelungen, dafür die Theorie gescheitert.)

Du siehst: Man kann ein Experiment nicht erfolgreich durchführen, wenn man dabei nicht FAKTISCH bestimmte Regeln (= Vorschriften) befolgt. Die FAKTISCHE Einhaltung der Vorschriften ist eine der notwendigen Bedingungen für das Gelingen des Experiments.

Zitat:

Bist Du der Ansicht, dass der Satz: "Herr Meier hat sich vorschriftsmäßig verhalten" eine Aussage darüber ist, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?

Und bist Du der Ansicht, dass "vorschriftsmäßig" eine reale Eigenschaft des Verhaltens von Herrn Meier ist?

Mit der (ursprünglich allerdings auch so gemeinten) Ersetzung von "verhalten" durch "handeln" : Ja, unbedingt.

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 07. Nov. 2004, 21:07 Uhr

Hallo Eberhard!

Noch eine Bemerkung zu Deinem Beispiel im vorletzten Beitrag, dem höflichen Freimachen eines Sitzplatzes. Dazu schreibst Du:

Zitat:

Ich habe bewusst ein Beispiel gewählt, wo es keine "einschlägige" moralische Norm gibt, weil hier in den letzten Jahrzehnten ein Wandel der Auffassungen stattgefunden hat.


So eine Situation, in der die Beteiligten nicht sicher sein können, ob hier eine bestimmte Norm gilt, würde ich als einen Grenzfall betrachten. Das heißt aber, dass er sich zur Demonstration nicht so gut eignet.

Wenn ich den Gattungsunterschied zwischen Kiemenatmern und Lungenatmern erläutern will, nehme ich auch nicht als erstes Beispiel einen Molch, der beides ist.

Für unsere Fragestellung sollte also ausgegangen werden von einer Situation, in der alle Beteiligten WISSEN, dass dort eine bestimmte Regel unbestritten gilt (dass also, anders gesagt, diese Norm die Beschaffenheit der Situation mit konstituiert). Und sie sollten außerdem auch die - intersubjektiv verbindlichen - Kriterien kennen, nach denen sich regelkonformes von regelwidrigem Verhalten unterscheiden lässt.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 08. Nov. 2004, 09:50 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich befürchte immer noch, dass wir ein problem mit der frage nach der beschaffenheit der wirklichkeit haben.
und das problem liegt, wie ich versucht habe anzudeuten in der differenzierung zwischen sozialer wirklichkeit und (eben) wirklichkeit.
als soziologe ist es bestimmt von nicht geringem interesse, wie sich eine person verhält. ob sie sich von bestimmten verhaltenscodes beeinflussen läßt, entweder in dem sie sich mit ihrem handeln entsprechend dieser codes verhält -der einfachheit halber spreche ich einmal von konformisten- oder ob sie sich entgegen dieser codes verhält (nonkonformisten). insofern ist es auch vielleicht interessant, inwiefern nonkonformistisches vorgehen im wissenschaftsbetrieb förderlich bzw. hinderlich ist und dergleichen mehr.

allerdings sollten wir nicht vergessen, dass wir es hier mit einer sozialen bzw. kulturellen wirklichkeit zu tun haben, die gesellschaftlichem wandel unterliegen kann. der unterschied dazu sind sätze, die rein deskriptiver natur sind: herr meier stellte die und die apparate auf, tat dies und jenes. die die beschaffenheit des tuns in sofern widerspiegeln, als das sie uns sagen was getan worden ist, aber außen vor lassen, wie etwas ausgeführt wurde (vorbildlich, stümperhaft etc.).

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 08. Nov. 2004, 11:41 Uhr

Hallo Thomas!

Vielleicht erklärst Du mir den Unterschied zwischen "sozialer Wirklichkeit" und "(eben) Wirklichkeit" etwas genauer?

Du siehst mich nämlich einigermaßen verblüfft, dass nun Du es bist, der die Anzahl der Wirklichkeiten vermehrt... Ich erinnere mich noch gut daran, dass Du Dich mit einiger Vehemenz gegen meine Rede von den "Interpretationswelten" ausgesprochen hattest. Es gebe, so Du, nur EINE Wirklichkeit.
Aber diese Deine ANSICHT über die Wirklichkeit scheint selbst einem "Wandel zu unterliegen" (wie die soziale oder kulturelle Wirklichkeit, die Du als zweite Wirklichkeit hier einführst):

Zitat:

allerdings sollten wir nicht vergessen, dass wir es hier mit einer sozialen bzw. kulturellen wirklichkeit zu tun haben, die gesellschaftlichem wandel unterliegen kann. der unterschied dazu sind sätze, die rein deskriptiver natur sind(...), die die beschaffenheit des tuns in sofern widerspiegeln, als das sie uns sagen was getan worden ist, aber außen vor lassen, wie etwas ausgeführt wurde.


Auch diesen Unterschied zwischen dem WAS und dem WIE hätte ich gern genauer erklärt. Wirklichkeit scheint also gewissermaßen die unwandelbare "Washeit" der Dinge (scholastisch: "quidditas" ) zu sein (ich hatte dafür schon mal den Terminus "Wesen an und für sich" vorgeschlagen). Und alle Veränderungen oder Modifikationen, die diese Washeit im Auge des Betrachters erfährt, wären dann was?

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 08. Nov. 2004, 12:15 Uhr

Hallo Thomas,

hier noch ein Nachsatz...

Du sprichst von "rein deskriptiven Sätzen" (über die Wirklichkeit). Nun scheinen die Wissenschaften einige Mühen aufzuwenden, um solche "rein deskriptiven Sätze" produzieren zu können. Und das ist die Pointe meines Beispiels "Experiment" : Damit ein Experiment am Ende unbezweifelbar "deskriptive" Aussagen erbringen kann, müssen Wissenschaftler sehr überlegt und vorschriftsmäßig handeln. Sie müssen auf eine besonders streng NORMIERTE Weise handeln. Ohne die Einhaltung der Normen, die aus der NATUR des Experiments hervorgehen, erhielten sie Aussagen über fehlerhafte Apparate oder fehlerhafte Handlungen oder fehlerhafte Schlüsse usw. "Rein deskriptiv" werden Aussagen über die Wirklichkeit offenbar nicht, wenn man einfach nichts tut oder denkt. Deskriptive Aussagen fallen uns nicht in den Schoß. Es bedarf vielmehr einer gezielten Anstrengung, es bedarf eines RICHTIGEN, korrekten Handelns nach Vorschriften, die von den Handelnden selbst entworfen und verantwortet werden.

Will man beschreiben, WAS ein Experimentator tut, dann genügt es nicht, DASS er eine Versuchsanordnung aufbaut oder DASS er die Messgeräte abliest - er muss dies alles auf eine bestimmte Weise, nämlich RICHTIG tun, damit er am Ende "rein deskriptive Sätze" erhält.

Und was die Abgrenzung von "kultureller Wirklichkeit" und "Wirklichkeit" betrifft: Die Apparate, die Wissenschaftler benutzen: Messgeräte, Computer, Teilchenbeschleuniger und und und... - sind das natürlich vorgefundene Dinge? Oder sind es menschliche Konstruktionen, die bestimmte KULTURELLE Voraussetzungen haben? Wieso hatte Newton noch keinen Teilchenbeschleuniger? Wieso hat man die Existenz des Neptun zunächst nur errechnen können, statt ihn gleich durchs Teleskop zu betrachten und "rein deskriptive Sätze" über ihn zu äußern?

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 08. Nov. 2004, 13:37 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich denke nicht, dass wir uns bei den worten sozialer wirklichkeit und wirklichkeit nicht einig sind.
es handelt sich weder um eine verdopplung, oder allgemeiner einer multiplikation von wirklichkeit. ich bin nach wie vor der auffassung, dass wir es mit einer einzigen wirklichkeit zu tun haben. ich weiß nicht, ob ich es in einem meiner vorigen beiträge kenntlich gemacht habe, aber ich habe um der diskussion willen diese unterscheidung miteingebracht. sie erfüllt lediglich heuristische zwecke, und ist nicht ontologischer natur. es geht nicht darum, dass zwei welten/wirklichkeiten existieren - das wäre eine ontologische festlegung, sondern es geht darum, dass es für unsere diskussion sinnvoll wäre, wenn wir diese unterscheidung träfen -im rahmen der diskussion wohlgemerkt.
und daran schließt sich auch das an, was ich meinte, dass präskriptive aussagen, keine aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit sind. "du sollst nicht töten" ist ebenso wie "er hat vorbildlich gehandelt", keine aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit.
und ich denke auch, dass meine position insoweit -jetzt- geklärt ist.
wenn wir aussagen über die wirklichkeit treffen sprechen wir davon, dass etwas z.b existiert oder etwas besteht aus der und der chemischen verbindung.
wenn wir über die soziale wirklichkeit sprechen, sagen wir, dass z. B. etwas vorbildlich, gut, schlecht, etc. genannt wird.

wenn wir sagen, blaues licht, ist ein licht mit der und der wellenlänge, so ist das ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit. sagen wir, dass blaues licht ein angenehmes licht ist, sagen wir nichts über die beschaffenheit des lichts, resp. der wirklichkeit aus.
es ist eine kontingente eigenschaft, dass das blaue licht, angenehm ist. es ist eine a posteriori notwendige eigenschaft, dass blaues licht die und die wellenlänge hat. jede elektromagnetische strahlung dieser wellenlänge ist blaues licht et vice versa.


wenn wir sagen, der wissenschaftler meier hat die und die apparate aufgestellt, das und das getan, so ist das ein satz über die wirklichkeit, ob sein ergebnis brauchbar oder unbrauchbar ist -oder einer theorie entsprechend- ist dabei nachrangig.
ebenfalls ist die versuchsanordnung -meiner auffassung nach- beliebig. wichtig ist, damit es sich um eine aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit handelt, dass das ergebnis des versuchs uns, z. B. im falle eines physikalischen versuchs, eine eigenschaft der wirklichkeit mitteilt, z. B. dass blaues licht die und die wellenlänge hat.

dass sich wissenschaftler bei ihrem tun, um die einhaltung gewisser normen kümmern müssen, hat nichts mit den aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit zu tun, sondern ist ein phänomen des wissenschaftsbetriebes, und somit ein kulturelles phänomen. lassen wir die phantasie ein wenig schweifen und denken uns, dass jemand die eigenschaft des blauen lichts, die und die wellenlänge zu haben, durch bloße intuition erraten hätte. es wäre anzunehmen, dass kein ernstzunehmender wissenschaftler, diesem ergebnis so ohne weiteres vertrauen würde. auch wenn das ergebnis sich bewahrheiten würde, auch wenn es ein gültiger satz über die beschaffenheit der wirklichkeit wäre. und das sogar nachweisbar. intuitives herumraten ist kein im engen sinne wissenschaftliches vorgehen. in diesem falle hätte sich derjenige, der die wellenlänge korrekt erraten hätte also nicht an die normen des geltenden wissenschaftsbetriebes gehalten, und dennoch eine völlig korrekte aussage getroffen.

ich denke es steht außer frage, dass im wissenschaftsbetrieb gewisse ergebnisse gewollt herbeigeführt werden, und entsprechend auch manipuliert und fingiert wird - denken wir nur an die "kalte fusion". und dass uns die naturwissenschaft nicht alle eigenschaften der wirklichkeit wird erklären können, dürfte seit max planck und albert einstein, bzw. de broglie, schrödinger, feynman und anderen auch klar sein.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 08. Nov. 2004, 15:04 Uhr

Hallo Thomas,

nur eine vorläufige, auf den Kern zugespitzte Antwort.

Eine Norm (Vorschrift, Regel...) kann nur dann in der "sozialen Wirklichkeit" gelten, wenn sie (implizit oder explizit) Kriterien an die Hand gibt, mit denen man normkonforme von abweichenden Handlungen unterscheiden kann. Es muss hier eine von allen erkennbare spezifische Differenz geben. Sonst gälte eine Norm "nur im Geiste", und keine wahrnehmbaren Handlungen - weder die eigenen noch die fremden - ließen sich mit dieser Norm in Verbindung bringen. d. h. diese Norm wäre überflüssig, gar nicht existent.

Also, wenn eine Norm erlassen wird, muss es möglich sein zu urteilen: Diese Handlung IST (objektiv) ein Verstoß gegen die Norm und DARUM wird sie mit den und den gewaltsamen Handlungen sanktioniert. (" Gewalt" hier verstanden als Ausübung von Zwang. Eine gerichtlich angeordnete Pfändung z. B. ist ein Akt der Staats-" Gewalt".)

Oder wie würdest Du die Arbeit der Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft, Polizei) charakterisieren? Wie die Aussagen von Sachverständigen vor Gericht? Was geht dem "evaluativen Urteil" eines Gerichts voraus? Was wird in der gerichtlichen "Beweisführung" bewiesen?

Ein anderes Beispiel.

Fußballschiedsrichter, so heißt es, treffen "Tatsachenentscheidungen". Seit es das Zeitlupenplayback gibt, machen sich Kommentatoren einen Spaß daraus, Schiedsrichterentscheidungen zu überprüfen. Stand dieser Spieler WIRKLICH im "Abseits" ? War es ein ABSICHTLICHES Handspiel im Strafraum, das zum Strafstoß geführt hat? Ist der Stürmer WIRKLICH gefoult worden oder war er plötzlich im Strafraum mit der notorischen "Fallsucht" geschlagen, hat er also eine "Schwalbe" hingelegt?

In Zeitlupenaufnahmen - möglichst noch aus verschiedenen Perspektiven - kann man meist gut sehen, ob ein Spieler die Hand mit Absicht zum Ball geführt hat oder ob er nur "angeschossen" wurde. Man kann auch abschätzen, ob ein Stürmer wegen des heftigen Körpereinsatzes eines Verteidigers hingefallen ist oder ob er bereit war, sich bei der kleinsten Berührung auf den Rasen zu werfen.

d. h. es gibt objektivierbare Kriterien dafür, ob ein Spieler TATSÄCHLICH "foul" gespielt hat oder nicht. z. B.: Hat er "zuerst den Ball gespielt" oder gleich auf das Schienbein des Gegners gezielt? Hat der Ball nach seinem Einstz überhaupt die Richtung geändert, während der gegnerische Spieler hart zu Boden ging? - Oder: "Ging die Hand zum Ball" oder prallte der Ball "zufällig" gegen die Hand, die unwillkürlich durch die Luft fuhr?

Solche Studien "widerlegen" manchmal  Schiedsrichterentscheidungen. Aber das ist offenbar nur deshalb möglich, weil es - von der Evaluierung unabhängige!! - objektive Sachverhalte gibt, die die Anwendung einer Regel begründen.

(Ähm... um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Zum "objektiven Sachverhalt" gehört vor allem die ABSICHT des Spielers, die sich in seiner Handlung manifestiert. Denn nur die Absicht begründet ja die Rede von einem "tatsächlichen Verstoß" gegen eine Norm.)


Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 08. Nov. 2004, 15:29 Uhr

hi,

ich denke, dass wir -obwohl ich zugegebenermaßen kein fußballfan bin ;)- mit dem fußballbeispiel weiter kommen werden. wir können sagen, dass wir das verhalten der spieler haben, die so und so spielen, und andererseits die regeln des spiels haben. nur innerhalb des fußballspiels ist es sinnvoll von "handspiel" zu reden. andererseits ist "handspiel" sozusagen konstitutiv für basketball. "abseits" hat zum beispiel in mehreren sportarten (fußball und soweit ich weiß auch eishockey) bedeutung. hingegen hat "schach" bei keiner ballsportart eine bedeutung (wobei ich neulich eine neue variante von "schach" gesehen habe: 7 zwerge; einer schlägt dem anderen ein brett auf den kopf; wer zuerst umfällt muss "schach" sagen, ansonsten scheidet er aus).
die spielzüge werden dann innerhalb des kontextes bewertet. oder anders: das verhalten einzelner ist in einem kontext relevant im anderen nicht.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 08. Nov. 2004, 15:47 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Welche Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit, wie sie ist?

Welche Sätze sind (wertende) Stellungnahmen zur Wirklichkeit, wie sie ist?

Bleiben wir bei Deinem Beispiel: "Herr Meier hat vorschriftsmäßig gehandelt."

Wenn dieser Satz auf eine bestimmte Vorschrift bezogen wird, muss er keine Stellungnahme zur Wirklichkeit enthalten. Wenn z. B. die Vorschrift besagt: "Vom Versuchsablauf ist ein Protokoll anzufertigen" und Herr Meier hat ein solches Protokoll angefertigt, dann hat er vorschriftsmäßig gehandelt. Dies kann man durch logische Subsumption der Handlung unter die Norm feststellen.

Nun hat Herr Meier bei dem Versuch vielleicht vergessen, die Brandtür zu schließen. Damit hat er gegen feuerpolizeiliche Vorschriften verstoßen. Also gilt auch der Satz: "Herr Meier hat nicht vorschriftsmäßig gehandelt."

Diesen Widerspruch kann man jedoch auflösen, indem man immer auf die jeweilige Vorschrift Bezug nimmt. Insofern ist "Vorschriftsmäßigkeit" keine Eigenschaft der Handlung als solcher, sondern setzt immer den Bezug zu einer bestimmten Vorschrift voraus.

Man kann also die Vorschriftsmäßigkeit eines Handelns feststellen, ohne dazu Stellung zu nehmen, d. h. ohne das Handeln damit zu billigen oder zu missbilligen. Man kann auch sagen: "Herr Meier hat vorschriftsmäßig gehandelt", wenn Herr Meier zum Wachpersonal eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers gehört, und einen flüchtenden Häftling erschießt. (Wobei ich annehme, dass dies in seiner Dienstvorschrift so angeordnet war.)

Um solche Feststellungen zu treffen, muss man keine wertende Stellungnahme abgeben.

Zu einer Wertung kommt es immer dann, wenn sich der Sprecher mit dem Inhalt der Normen, auf die Bezug genommen wird, identifiziert, d. h. wenn er sich nicht auf die faktische Geltung der Norm bezieht (auch die Vorschriften für ein KZ gelten faktisch), sondern wenn er zugleich ausdrückt, dass er diese Normen für gültig und gerechtfertigt hält.

Eine solche Identifizierung mit der Norm, auf die Bezug genommen wird, liegt meiner Ansicht nach bei dem Beispiel vom Freimachen des Sitzplatzes vor. Der Satz "B hat vorbildlich gehandelt" ist nicht nur logische Subsumption der Handlung unter eine moralische Vorschrift sondern auch wertende Stellungnahme zu dieser Wirklichkeit. Ob man einem Älteren den Sitzplatz räumen soll, lässt sich jedenfalls nicht durch Untersuchung der vorliegenden Handlung entscheiden und auch nicht durch eine Untersuchung der faktisch geltenden moralischen Normen der betreffenden Gesellschaft.

Aber die Abgrenzung zwischen faktischen und wertenden Behauptungen ist knifflig. Offenbar gibt es in der Umgangssprache viele Nuancen und der Übergang zu wertenden Stellungnahmen ist fließend, weshalb man ja oft  - um Entschuldigung nachsuchend - sagt; "Ich meine das nicht wertend, ich stelle bloß fest, wie es ist."

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am 08. Nov. 2004, 17:12 Uhr

Hallo Thomas!

Hältst Du es für sinnvoll, dass man sagte: "Mensch x hat an der und der Stelle in Raum und Zeit eine so und so beschreibbare Bewegung gemacht. Das ist die 'objektive Wirklichkeit'. Legt man nun die Regeln des Fußballspiels zugrunde, ist diese Bewegung als Foulspiel zu evaluieren. Legt man die Regeln des Eishockeys zugrunde, war es nur 'erlaubter Körpereinsatz'." ?

Oder meinst Du nicht, dass es dem Spieler selbst und allen Beobachtern von vornherein klar ist, dass es hier um Fußball geht und dass die Handlungen, die hier vollzogen werden, von vornherein als Züge in diesem Spiel konzipiert und ausgeführt werden, dass es sich also "objektiv" um Fußballspielen handelt?

Ist es sinnnvoll zu sagen: "Ich bewege meine Hand so und so, um damit ein so und so beschaffenes Stück Holz zu verschieben. Fallweise könnte das wie ein Zug im Schachspiel aussehen." ? Oder IST das, was ich da tue, ein Zug im Schachspiel und sonst nichts?
Ein Besucher vom Planeten x im System von Alpha Centauri würde vermutlich keinen 'Zug im Schachspiel' sehen. Er würde vielleicht - wenn er überhaupt so etwas wie Augen hat... - nur eine Bewegung sehen, deren Sinn er nicht versteht. Indessen bin ich kein Besucher von Alpha Centauri, sondern ein irdischer Schachspieler.

Was ich sagen will: Ganz offenkundig ist unsere Wirklichkeit nicht aufgeteilt in einen "objektiven" Bereich und einen zusätzlichen, den man "Sinn" nennen könnte. Sondern unsere Wirklichkeit ist eine OBJEKTIV SINNVOLLE Wirklichkeit.


Da Du Wittgenstein - wie ich - zu schätzen, bloß gewisse seiner elementaren Lehren inzwischen wieder vergessen zu haben scheinst, empfehle ich hierzu die erneute Lektüre der "Philosophischen Untersuchungen"... :-)
Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 08. Nov. 2004, 18:16 Uhr

hallo hermeneuticus,

du magst vielleicht lachen, wenn du erfährst, dass ich mich derzeit in der tat den PU widme. allerdings schlage ich mich mit wittgensteins argumenten bezüglich der privatsprache rum. über kurz oder lang wollte ich dazu noch einen thread hier plazieren.  

in deinem ersten abschnitt scheinst du mir zwei sachen zu vermengen:
Zitat:

Hältst Du es für sinnvoll, dass man sagte: "Mensch x hat an der und der Stelle in Raum und Zeit eine so und so beschreibbare Bewegung gemacht. Das ist die 'objektive Wirklichkeit'. Legt man nun die Regeln des Fußballspiels zugrunde, ist diese Bewegung als Foulspiel zu evaluieren. Legt man die Regeln des Eishockeys zugrunde, war es nur 'erlaubter Körpereinsatz'." ?



wir haben es einerseits mit einer gegenüberstellung der auffassung von sprache (nach dem tractatus) zu tun, und mit der quasi geläuterten auffassung der PU. ich bin nicht der auffassung, dass eine aussage der form (x,y,z,t," rot" ) oder wie auch immer eine wissenschaftliche kunstsprache den sachverhalt darstellen mag genauer ist als die umgangssprachliche formulierung von "da ist etwas rotes". auf unser beispiel bezogen ist die raumzeitliche angabe nicht wirklich präziser als die aussage "das ist ein foul!"

allerdings gibt es einige aussagen, die zwar umgangssprachlich korrekt scheinen, aber den dargestellten sachverhalt nicht treffen. ich weiß nicht inwiefern das wittgensteins auffassung ent- oder widerspricht. möglicherweise eher letzteres.
[....] schreibe später weiter ... muss kurzfristig weg

- II
- Hermeneuticus am 08. Nov. 2004, 20:49 Uhr

Hallo Eberhard!

Zitat:

Diesen Widerspruch kann man jedoch auflösen, indem man immer auf die jeweilige Vorschrift Bezug nimmt. Insofern ist "Vorschriftsmäßigkeit" keine Eigenschaft der Handlung als solcher, sondern setzt immer den Bezug zu einer bestimmten Vorschrift voraus.

Das ist zwar richtig, gilt aber für jede Zuschreibung von Eigenschaften. Wenn ich an einem x die Eigenschaft der Schwere oder der Röte feststellen will, muss ich Bezug nehmen auf die Bedeutung, die "Schwere" oder "Röte" unabhängig vom vorliegenden Fall haben. Und ich brauche Kriterien, anhand derer ich feststellen kann, ob "Schwere" oder "Röte" auch auf dieses x zutreffen. Ob dies dann Eigenschaften des Gegenstandes "als solchen" sind, ist eine metaphysische Frage, die man getrost offen lassen kann, wenn die Kriterien für die Zuschreibung erfüllt sind.

Und wie gesagt: Eine Norm muss (implizit oder explizit) festlegen, wodurch sich normenkonformes von normenwidrigem Handeln unterscheiden lässt. Dieser Unterschied muss doch irgendwie den Handlungen von Menschen anzusehen sein (also eine ERKENNBARE "Eigenschaft" von Handlungen sein). Wenn nicht – was soll dann eine solche Norm?  

Wie stellt denn ein Schiedsrichter in Sekundenbruchteilen fest, dass ein bestimmter Körpereinsatz von Spieler y regelwidrig war? Doch offenbar nur an der Handlung des Spielers, die er mit bloßem Auge verfolgt – und zwar in Kenntnis der Regeln. Da der Spieler seinerseits ebenfalls in Kenntnis der Regeln agiert, ist der Unterschied zwischen regelrechtem und regelwidrigem Handeln ein erkennbarer Unterschied an empirischen Handlungen.
Ich weiß nicht, was daran so knifflig sein soll.

Zitat:

Man kann also die Vorschriftsmäßigkeit eines Handelns feststellen, ohne dazu Stellung zu nehmen, d. h. ohne das Handeln damit zu billigen oder zu missbilligen.

Allerdings! Und anhand dieser Unterscheidung kann ich nur bekräftigen, dass ich bisher nur vom Feststellen der Vorschriftsmäßigkeit gesprochen habe, nicht von persönlicher Stellungnahme. Ich spreche von intersubjektiv gültigen Normen, nicht von persönlichen Wertvorstellungen. Und für mich ist es klar, dass unsere Wirklichkeit von einer Fülle solcher institutionalisierten Normen geprägt ist, deren  Geltung nicht von der persönlichen Billigung abhängt. z. B. gibt es durchaus Gesetze, die ich persönlich schwachsinnig finde, aber das ist, wie man so schön sagt, "MEIN Problem". Ich kann (hierzulande) dagegen protestieren, aber befolgen muss ich sie trotzdem, solange mein Protest keinen Erfolg hat.

Zitat:

Zu einer Wertung kommt es immer dann, wenn sich der Sprecher mit dem Inhalt der Normen, auf die Bezug genommen wird, identifiziert, d. h. wenn er sich nicht auf die faktische Geltung der Norm bezieht (auch die Vorschriften für ein KZ gelten faktisch), sondern wenn er zugleich ausdrückt, dass er diese Normen für gültig und gerechtfertigt hält.

Nun, das persönliche Für-gültig-Halten ist nicht immer rein individuell. Die Wertvorstellungen und Normen, mit denen wir aufwachsen, sind ja nicht beliebig. Und wenn es beispielsweise ein Christ ist, der zum Dienst im KZ eingeteilt wird, wird er (hoffentlich) die Verbindlichkeit des christlichen Menschenbildes über die Dienstvorschrift stellen. In der Tat würde er sich gerade in diesem Moment mit dem christlichen Menschenbild AUSDRÜCKLICH identifizieren. Es wäre dies aber die Entscheidung für ein anderes - bereits vorhandenes und intersubjektiv gültiges - Werte-" System", das nicht seiner individuellen Erfindung entstammt.  

Zitat:

Eine solche Identifizierung mit der Norm, auf die Bezug genommen wird, liegt meiner Ansicht nach bei dem Beispiel vom Freimachen des Sitzplatzes vor. Der Satz "B hat vorbildlich gehandelt" ist nicht nur logische Subsumption der Handlung unter eine moralische Vorschrift sondern auch wertende Stellungnahme zu dieser Wirklichkeit.

Mit dieser Differenzierung: ja, einverstanden. Derjenige, der freiwillig seinen Sitzplatz räumt, hat für sich entschieden, dass die Normen der "alten Schule" für ihn persönlich noch gelten (erfunden hat er sie natürlich auch nicht). Und wer ihm darin beipflichtet, wird sagen: "Vorbildlich!" d. h. sie stimmen auch darin überein, dass die Regeln der Höflichkeit EIGENTLICH auch für alle anderen gültig seien. Indes: O tempora, o mores…  

Zitat:

Aber die Abgrenzung zwischen faktischen und wertenden Behauptungen ist knifflig.

Vielleicht wird es weniger knifflig, wenn man nicht nur von SÄTZEN verschiedener Art ausgeht (deskriptiven oder präskriptiven) und dabei stehenbleibt, sondern von einer Analyse des HANDELNS. Das setzt allerdings die Bereitschaft voraus, Normen und Zwecke als ein wirklichkeitskonstitutives Moment zuzulassen. Denn es gehört zur "Natur" des Handelns, dass es Zwecke verfolgt und sich vom gesetzten Zweck her beurteilen lässt. Ebenso konstituieren Regeln Praxen. (Denken wir etwa an ein Fußballspiel: WAS die 25 Personen auf dem grünen Rasen "wirklich tun", ist ohne die Kenntnis der Spielregeln, ohne die gesellschaftliche Institution "Fußball" nicht auszumachen.)

Gruß
H.

- II
- Dyade am 08. Nov. 2004, 23:03 Uhr

hallo hallo,

ich lese kräftig mit ohne viel zu schreiben. Ist dennoch sehr interessant eure Diskussion.  :-) "Ich kann (hierzulande) dagegen protestieren, aber befolgen muss ich sie trotzdem, solange mein Protest keinen Erfolg hat." (Herm.)

Musst du nicht unbedingt, jedoch mit den Konsequenzen einer Nichtbefolgung dann leben schon.  :-)

- II
- Hermeneuticus am 09. Nov. 2004, 00:07 Uhr

Hallo Dy!

Zitat:

ich lese kräftig mit ohne viel zu schreiben. Ist dennoch sehr interessant eure Diskussion.


Besonders vielsagend finde ich hier das "dennoch"...

Ist aber beruhigend/anspornend zu wissen, dass es "da draußen" noch Leser gibt. :-)

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 09. Nov. 2004, 00:36 Uhr

[...] teil II

also kurzes resümmee: eine logisch-atomistische beschreibungssprache wie wittgensteins tractatus sie anvisiert erfasst die wirklichkeit nicht genauer als unsere umgangssprache, i.e. natürliche sprachen. eine sogenannte "zweitsprache" ist einerseits obsolet, und bedarf andererseits umgangssprachlicher ergänzung bzw. deutung.

insofern denke ich sind wir, hermeneuticus und ich, einer meinung. allerdings vermengst du, hermeneuticus, diesen punkt mit dem des (sprach-)spiels.

Zitat:

Legt man nun die Regeln des Fußballspiels zugrunde, ist diese Bewegung als Foulspiel zu evaluieren. Legt man die Regeln des Eishockeys zugrunde, war es nur 'erlaubter Körpereinsatz'.

Zitat:

Oder meinst Du nicht, dass es dem Spieler selbst und allen Beobachtern von vornherein klar ist, dass es hier um Fußball geht und dass die Handlungen, die hier vollzogen werden, von vornherein als Züge in diesem Spiel konzipiert und ausgeführt werden, dass es sich also "objektiv" um Fußballspielen handelt?

Zitat:

Ist es sinnnvoll zu sagen: "Ich bewege meine Hand so und so, um damit ein so und so beschaffenes Stück Holz zu verschieben. Fallweise könnte das wie ein Zug im Schachspiel aussehen." ? Oder IST das, was ich da tue, ein Zug im Schachspiel und sonst nichts?

Zitat:

Ganz offenkundig ist unsere Wirklichkeit nicht aufgeteilt in einen "objektiven" Bereich und einen zusätzlichen, den man "Sinn" nennen könnte. Sondern unsere Wirklichkeit ist eine OBJEKTIV SINNVOLLE Wirklichkeit.

es ist sehr wohl sinnig zu sagen, dass derjenige, der das spiel bzw. die regeln kennt, versteht, worum es in dem spiel geht. er kennt die relevanten züge.

Zitat:

200. es ist natürlich denkbar, dass in einem volke, das spiele nicht kennt, zwei leute sich an ein schachbrett setzen und die züge einer schachpartie ausführen; ja auch mit allen seelischen begleiterscheinungen. und sähen wir dies, so würden wir sagen, sie spielten schach. aber nun denk dir eine schachpartie nach gewissen regeln in eine reihe von handlungen übersetzt, die wir nicht gewohnt sind, mit einem spiel zu assoziieren, - etwa ein ausstoßen von schreien und stampfen mit den füßen. und jene sollen nun, statt die uns geläufige form des schach zu spielen, schreien und stampfen; und zwar so, dass diese vorgänge sich nach geeigneten regeln in eine schachpartie übersetzen ließen. wären wir nun noch geneigt, zu sagen, sie spielten ein spiel; und mit welchem recht könnte man das sagen?

(PU)


Zitat:

[...]wenn kinder eisenbahn spielen, hängt ihr spiel mit ihrer kenntnis der eisenbahn zusammen. es könnten aber kinder eines volksstammes, dem die eisenbahn unbekannt ist, dies spiel von andern übernommen haben, und es spielen, ohne zu wissen, dass damit etwas nachgeahmt wird. man könnte sagen, das spiel habe für sie nicht den gleichen sinn wie für uns

(PU 282)

ich denke, mit diesen beispielen sollte auch einsichtig sein, was du meinst, wenn du davon sprichst, dass
Zitat:

Wie stellt denn ein Schiedsrichter in Sekundenbruchteilen fest, dass ein bestimmter Körpereinsatz von Spieler y regelwidrig war? Doch offenbar nur an der Handlung des Spielers, die er mit bloßem Auge verfolgt – und zwar in Kenntnis der Regeln. Da der Spieler seinerseits ebenfalls in Kenntnis der Regeln agiert, ist der Unterschied zwischen regelrechtem und regelwidrigem Handeln ein erkennbarer Unterschied an empirischen Handlungen.

das problem besteht darin, dass für denjenigen, der die regeln des spiels nicht kennt, das spiel bedeutungslos ist, ja, er weiß nichteinmal, ob es sich um ein spiel handelt (denken wir an PU 200, als die geschriene und gestampfte schachpartie gespielt wird). er versteht nicht, welche bedeutung das geschehen besitzt. ebensowenig wie die kinder des fremden volksstammes, dem eisenbahn-spielen nicht die bedeutung beimessen, die es für uns hat. sie wissen nicht, dass es sich um ein mimetisches spiel handelt.

und ich denke, dass es anhand der beispiele einsichtig ist, inwiefern die regeln, wie etwas zu bewerten ist, nicht in den eigentlichen handlungen enthalten sind. die handlungen sind nur für den bedeutend, der auch die regeln zu ihrer identifikation kennt. das hat aber nichts mit sätzen der ontologie (existenzsätzen) zu tun.
und ich denke nicht, dass es wittgenstein in diesen beispielen darum ging, zu zeigen, dass interpretation sozusagen ontologisch konstitutiv für wirklichkeit ist. ich denke, dass jemand in der und der weise handelt (z. B. die kinder die eisenbahn spielen), steht in diesem falle außer frage. eher ist es in diesen beispielen so, dass das verhältnis von interpretation und wirklichkeit derart ist, dass wirklichkeit der interpretation vorgängig ist.

Zitat:

Und für mich ist es klar, dass unsere Wirklichkeit von einer Fülle solcher institutionalisierten Normen geprägt ist, deren  Geltung nicht von der persönlichen Billigung abhängt.


um nicht unnötige verwirrung zu stiften, hielte ich es für besser zu sagen

Zitat:

Und für mich ist es klar, dass unsere [soziale]Wirklichkeit [...]

Zitat:

Vielleicht wird es weniger knifflig, wenn man nicht nur von SÄTZEN verschiedener Art ausgeht (deskriptiven oder präskriptiven) und dabei stehenbleibt, sondern von einer Analyse des HANDELNS.

das aber ist aufgabe der ethik und nicht der erkenntnistheorie/ontologie geschweige denn wissenschaftstheorie. die vorabentscheidung zwischen deskriptiven und präskriptiven/normativen aussagen grenzt die gebiete voneinander ab. einen letzten Schlussstrich hat wittgensteins tractatus gezogen.

Zitat:

6.4 alle sätze sind gleichwertig
6.41 der sinn der welt muss außerhalb ihrer liegen. in der welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen wert.
wenn es einen wert gibt, der wert hat, so muss er außerhalb alles geschehens und so-seins liegen.
denn alles geschehen und so-sein ist zufällig.
was es nicht zufällig macht, kann nicht in der welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig.
6.42 darum kann es auch keine sätze der ethik[im sinne der sätze des tractatus] geben. sätze können nichts höheres ausdrücken.
6.421 es ist klar, dass sich die ethik nicht aussprechen läßt. ethik ist transzendental.
ethik und ästhetik sind eins.

(TLP).
in diesem sinne ist auch die rede von naturrecht bedeutungslos.
nicht deskriptive sätze sind keine sätze über die beschaffenheit der wirklichkeit.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 09. Nov. 2004, 02:29 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

das problem besteht darin, dass für denjenigen, der die regeln des spiels nicht kennt, das spiel bedeutungslos ist, ja, er weiß nichteinmal, ob es sich um ein spiel handelt. (...) er versteht nicht, welche bedeutung das geschehen besitzt.

Das ist richtig. Deswegen wird der Beobachter aber nicht zwangsläufig annehmen, er sehe einem völlig bedeutungslosen Naturvorgang zu. Immerhin beobachtet er Menschen, also seinesgleichen. Und deshalb setzt er mit Recht voraus, dass seinesgleichen in einer Wirklichkeit lebt, in der Bedeutung elementar, d. h. ein konstitutives Moment ist.

Du hast mir schon einmal darin zugestimmt, dass der Begriff der Natur relativ auf unser grundsätzlich kultürliches Dasein sei. Natur, verstanden als "das Andere", von uns Unbeeinflusste und nicht Sinndurchwirkte... ist nicht nur methodisch - d. h. in der Reihenfolge der logischen Ableitung - etwas Sekundäres, sondern war auch faktisch in der Menschheitsgeschichte eine späte Erfindung. Es war eine (rein methodisch begründete!) Entscheidung der neuzeitlichen europäischen Philosophen und Naturforscher, Zwecke (und das heißt ja letztlich "Sinn", "Intentionalität" ) aus dem Naturbegriff zu eliminieren.

Diese methodische Entscheidung, hatte - als eine menschliche - einen gewissen Sinn, und es scheint wichtig, immer wieder daran zu erinnern. Denn inzwischen wird die Tendenz immer stärker, jenen auf menschliche ENTSCHEIDUNGEN zurückgehenden Begriff der Natur absolut zu setzen, als sei er koextensiv mit "Wirklichkeit".
Natürlich fällt es dann schwer, in dieser ent-finalisierten Wirklichkeit noch so etwas wie "Sinn" oder "Bedeutung" unterzubringen, selbst dann, wenn diese Elemente weiterhin unsere tagtägliche Wirklichkeit konstituieren (und natürlich weiterhin auch das Handeln der Naturforscher). Und so führt man plötzlich - absolut sinnvolle und bedeutende - Diskussionen mit Menschen, die behaupten, Sinn und Bedeutung seien nichts Wirkliches (sondern nur "sozial wirklich" ).
Mir ist es schwer begreiflich, wie man Dinge aus der "wahren Wirklichkeit" verbannen kann, die man die ganze Zeit FAKTISCH in Anspruch NIMMT, UM diese Verbannung auszusprechen und zu begründen.

Anders gesagt: Genau jene Konzeption eines entfinalisierten Naturbegriffs ist ihrerseits "nur" eine methodische Entscheidung, also nur "sozial wirklich". Und es kann doch schlecht angehen, eine bloß "sozial wirkliche" Begriffsbestimmung mit der Wirklichkeit selbst gleichzusetzen - oder? Genau dagegen argumentierst Du doch anhand der Beispiele.

(Wir hatten in "Wahrheit I" schon mal eine Situation, in der jemand eine Behauptung aufstellte, die genau dann falsch wahr, wenn sie zutraf...)

Zitat:

und ich denke, dass es anhand der beispiele einsichtig ist, inwiefern die regeln, wie etwas zu bewerten ist, nicht in den eigentlichen handlungen enthalten sind. die handlungen sind nur für den bedeutend, der auch die regeln zu ihrer identifikation kennt. das hat aber nichts mit sätzen der ontologie (existenzsätzen) zu tun.


Ich stimme Dir zu: Handlungen sind nur bedeutend für den, der auch die Regeln zu ihrer Identifikation kennt. Und das schließt natürlich den Handelnden selbst mit ein. Daraus folgt aber nicht, dass die "eigentliche Handlung" etwas Sinn- oder Zweck- oder Regelfreies sein muss. Eine Handlung ohne Sinn kann keine "eigentliche Handlung" sein, sondern ist als "Verhalten" einzuordnen.

Und genau DAS ist es, was ich aus den Beispielen Wittgensteins herauslese. Jemand, der Schach spielt, tut nicht etwas, das dann zusätzlich, durch Interpretation oder hinzutretende "mentale Akte" noch eine Bedeutung erhält, die man auch ohne Verlust wieder subtrahieren kann. Wer nur die Bewegungen ausführt, die man zum Schachspiel braucht, spielt eben NICHT WIRKLICH Schach. Nur wer diese Bewegungen ausführt, weil er zielstrebige Züge IM SPIEL machen will (z. B. die gegnerische Dame bedrohen), spielt WIRKLICH Schach.
(Hier ist an das zu denken, was Wittgenstein zur Frage sagt, was es heißt, EINER REGEL ZU FOLGEN!)  

Um zu verdeutlichen, was ich meine, könnte ich auch fragen: Ist Schachspiel ALS Schachspiel ein Teil der Wirklichkeit?

Diese Behauptung scheint das abschlägig zu beantworten:

Zitat:

eher ist es in diesen beispielen so, dass das verhältnis von interpretation und wirklichkeit derart ist, dass wirklichkeit der interpretation vorgängig ist.

Wie soll man das verstehen? Ist die Absicht, einen bestimmten Spielzug zu machen nur die hinzukommende Interpretation dessen, was ich - angestoßen von einer natürlichen Kausalkette - gerade sowieso tue? Könnte ich mir auch gar nichts dabei denken, und ich würde im Grunde dasselbe tun?

Zitat:

das aber ist aufgabe der ethik und nicht der erkenntnistheorie/ontologie geschweige denn wissenschaftstheorie. die vorabentscheidung zwischen deskriptiven und präskriptiven/normativen aussagen grenzt die gebiete voneinander ab.

Du sagst ganz richtig: "die Vorentscheidung". Und es ist genau diese Vorentscheidung, gegen die ich hier argumentiere. Denn ich halte sie für schlecht begründet.

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am 09. Nov. 2004, 08:23 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich stimme dir zu, wenn du sagst, dass menschliches handeln grundsätzlich verstehbar ist. und derjenige, der sich einem handeln gegenübersieht, welches er nicht begreift, wird zumindest mutmaßen, dass es sich nicht um sinnloses treiben handelt - wahrscheinlich auch zu recht.

doch ich glaube, dass dieser punkt in unserem fall nicht zur diskussion steht. es ist ein punkt, in welchem wir wohl alle drei übereinstimmen: menschliches handeln ist bedeutsam.

Zitat:

hermeneuticus: Dass Du die EINE Wirklichkeit als "Natur" spezifizierst, leuchtet mir nicht ein. Vor allem deshalb nicht, weil wir mit "Natur" gewöhnlich den von unserem kultürlichen Leben unterschiedenen Teil der Welt meinen. Das zeigt schon, dass "Natur" relativ auf unser - selbstverständlich - kultürliches Dasein verstanden wird. Natur ist sozusagen "das Andere", von uns Unabhängige. (Worin sich aber zugleich zeigt, dass der BEGRIFF eben sehr wohl von unserem kultürlichen, "künstlichen", "geistigen" Dasein abhängig ist.)

Zitat:

thomas:für die diskussion beschränke ich mich auch gerne darauf, statt von "natur" von "welt" oder wenn es dir beliebt, von "wirklichkeit" zu sprechen.  
somit werden auch die von dir angeführten assoziationen relativiert. wirklichkeit ist und bleibt wirklichkeit. sie ist als solche kulturell unabhängig.

damit dürfte sich der punkt, den du ansprichst
Zitat:

Du hast mir schon einmal darin zugestimmt, dass der Begriff der Natur relativ auf unser grundsätzlich kultürliches Dasein sei. Natur, verstanden als "das Andere", von uns Unbeeinflusste und nicht Sinndurchwirkte... ist nicht nur methodisch - d. h. in der Reihenfolge der logischen Ableitung - etwas Sekundäres, sondern war auch faktisch in der Menschheitsgeschichte eine späte Erfindung.

erledigt haben. ich sehe in meiner äußerung keine zustimmung. ich verzichte lediglich der diskussion halber auf den begriff "natur", um die von dir angesprochenen assoziationen zu umgehen. daraus meine zustimmung abzuleiten, halte ich für ein wenig weit ausgeholt ;)

Zitat:

Und so führt man plötzlich - absolut sinnvolle und bedeutende - Diskussionen mit Menschen, die behaupten, Sinn und Bedeutung seien nichts Wirkliches (sondern nur "sozial wirklich" ).  
Mir ist es schwer begreiflich, wie man Dinge aus der "wahren Wirklichkeit" verbannen kann, die man die ganze Zeit FAKTISCH in Anspruch NIMMT, UM diese Verbannung auszusprechen und zu begründen.

niemand verbannt dinge aus der wirklichkeit. ich denke, dass wir dem kern deiner aussage auf der spur sind. ich denke wir müssen uns die frage stellen, welchen status besitzt die regel des spiels?
ist die regel des schachspielens im schachbrett enthalten? nein, offensichtlich nicht. denn auf einem schachbrett ist es auch möglich, "dame" oder "katz und maus" zu spielen. ebenso ist die regeln nicht in den schachfiguren oder in der kombination beider enthalten. dennoch besitzt die regel geltung - und zwar für alle spieler, die ein gewisses spiel spielen möchten. aber sie besitzt nur insoweit geltung, als die spieler dieses spiel spielen möchten.
die regel als solche ist nicht immanent in den figuren irgendwie angelegt. sie ist -vom standpunkt der figuren gesehen- den figuren gegenüber transzendent.

insofern wird nichts aus der wirklichkeit verbannt. es wird lediglich festgehalten, dass solche dinge nie teil der wirklichkeit waren.
dementsprechend hat niemand die natur "entfinalisiert" - was auch immer das ziel gewesen sein mag. im gegenteil. natur besaß noch nie ein ziel. nicht mehr und nicht weniger wird konstatiert.

Zitat:

206. einer regel folgen, das ist analog dem: einen befehl befolgen. man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter weise. [...]


(PU)

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 09. Nov. 2004, 10:19 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Ich habe keine Probleme damit, Handlungen, Ziele oder faktisch geltende Normen als etwas Wirkliches anzusehen. Menschen handeln, setzen sich Ziele, setzen Normen und verschaffen diesen faktische Geltung durch Belohnung oder Bestrafung. Dies sind erfahrbare und beobachtbare Sachverhalte, wie schwierig deren Feststellung im Einzelfall auch immer sein mag.

Ich habe auch keine Probleme mit der logischen Subsumption bestimmter Sachverhalte unter bestimmte Wertstandards und Normenssysteme.

Das Problem, um das es mir geht, ist die Abgrenzung von Sätzen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit von solchen Sätzen, die ein Willensverhältnis zur Welt ausdrücken, die also eine bestimmte Wirklichkeit empfehlen oder vorschreiben, aber nichts beschreiben.

Die Geltung von Beschreibungen der Wirklichkeit kann an der Erfahrung überprüft werden. Ich kann mich fragen: Ist es so, wie die Aussage besagt? Und ich kann mich weiterhin fragen: Stimmen die Wahrnehmungen, die ich mache, mit den Wahrnehmungen überein, die ich zu erwarten habe, wenn die Aussage wahr ist?

Dies ist bei Empfehlungen oder Normen nicht der Fall. Um ein Beispiel zu nehmen: die KZ-Vorschrift in Bezug auf den Schusswaffengebrauch gegenüber flüchtenden Häftlingen mag faktisch gelten, insofern als sie verkündet wurde, tatsächlich befolgt wird und Zuwiderhandlungen bestraft werden. Aber niemand kann allein durch seine Wahrnehmung oder gezielte Beobachtung entscheiden, ob er diese Vorschrift befolgen soll oder beispielsweise seinem christlichen Gewissen folgen soll.

Insofern erfordert die Rechtfertigung bzw. Kritik präskriptiver Sätze andere Arten von Argumenten als die Rechtfertigung und Kritik deskriptiver Sätze.

Aus diesem Grund sind auch Wörter, die eine empfehlende, handlungdorientierende Bedeutung haben wie z. B. "gut", "vorbildlich", "empfehlenswert" etc. zu unterscheiden von beschreibenden Wörter wie z. B. "schnell ", "rostfrei" oder "lebendig".

Das Wort "gut" hat einen anderen Charakter als z. B. das Wort "schnell". "Schnell" bezieht sich immer auf die Geschwindigkeit einer Sache: ein schnelles Auto, ein schneller Läufer, eine schnelle Antwort.

Bei dem Wort "gut" ist das anders: ein guter Drucker, ein guter Film oder ein guter Mensch lassen sich als solche nicht beobachten, sie beziehen sich auf einen bestimmten Standard der Bewertung - und diese Standards können von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe, von Subkultur zu Subkultur verschieden sein.

Es grüßt Dich und alle, die die Mühe einer gründlichen Analyse dessen, was Sie sagen, nicht scheuen, Eberhard.

- II
- Eberhard am 09. Nov. 2004, 12:20 Uhr

Hallo Hermeneiticus,

noch eine Anmerkung zur Begrifflichkeit.

Du schreibst: "Für unsere Fragestellung sollte also ausgegangen werden von einer Situation, in der alle Beteiligten WISSEN, dass dort eine bestimmte Regel unbestritten gilt."

Dies trifft auf die KZ-Ordung zu.

Dann taucht für die Praxis des KZ eine anderes Normensystemsystem (in Form des christlichen Menschenbildes) auf, das Du als "intersubjektiv gültiges – Werte-'System'" bezeichnest, obwohl unstrittig ist, dass "alle Beteiligten wissen, dass dort (im KZ) eine bestimmte Regel unbestritten gilt" – und das ist die KZ-Ordnung der Nazis.

Ich finde das etwas verwirrend.

Was meinst Du mit der Formulierung "intersubjektiv gültiges Werte- oder Normensystem" ?

Kann es bezogen auf ein und dieselbe Situation mehrere miteinander unvereinbare geltende oder gültige Normensystem geben?

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 09. Nov. 2004, 12:26 Uhr

hallo eberhardt,

ich möchte an
Zitat:

Aber niemand kann allein durch seine Wahrnehmung oder gezielte Beobachtung entscheiden, ob er diese Vorschrift befolgen soll oder beispielsweise seinem christlichen Gewissen folgen soll.  

anknüpfen.

man kann den sachverhalt auch umkehren, und fragen: inwieweit ist es erkennbar, ob jemand einer regel folgt, oder nicht? ich denke, dass die beobachtung keinen rückSchluss zuläßt, nach welcher regel gehandelt wird.
zwar kann sich ein gewisses verhalten mit einer gewissen interpretation decken, was aber nicht heißt, dass derjenige, der handelt nach der regel, die der interpretation zugrunde liegt, handelt.
wenn wir auf die regel, flüchtende häftlinge zu erschießen zurückkommen, und feststellen, dass ein soldat nicht schießt, können wir keinen rückSchluss daraus ziehen, der christliche glaube sei ursache seines verhaltens gewesen. möglicherweise ja. aber nicht notwendigerweise.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 09. Nov. 2004, 12:43 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

damit dürfte sich der punkt, den du ansprichst
erledigt haben. ich sehe in meiner äußerung keine zustimmung. ich verzichte lediglich der diskussion halber auf den begriff "natur", um die von dir angesprochenen assoziationen zu umgehen. daraus meine zustimmung abzuleiten, halte ich für ein wenig weit ausgeholt ;)


Nein, der Punkt hat sich gerade deshalb nicht erledigt, weil Du mir nicht zustimmst. Denn meine Argumentation hatte nicht den Zweck, Dir Deine Zustimmung zu beweisen. Ihr Geltungsanspruch hängt darum auch nicht von Deiner Zustimmung ab. Mein Ziel war und ist es zu zeigen, dass Du mit Deinem Konzept von "Wirklichkeit" etwas behauptest, dass Du gerade dann nicht mit Recht behaupten kannst, wenn Du "Wirklichkeit" so verstehst. Oder schlichter gesagt: Du gibst vor, mehr zu wissen als Du wissen kannst.

Mein Argumentationsziel ist es, metaphysische Behauptungen wie die folgenden als solche kenntlich zu machen:

Zitat:

wirklichkeit ist und bleibt wirklichkeit. sie ist als solche kulturell unabhängig.

...sagte das Kulturwesen Thomas.

Zitat:

niemand verbannt dinge aus der wirklichkeit.

Zugegeben. Aber ich meinte auch nicht Dinge im (traditionell) ontologischen Sinn, sondern Gegenstände von Aussagen. "Dinge" ist hier einfach durch "etwas" zu ersetzen. (Dass man Aussagen über "Sinn" und "Bedeutung" machen kann, ist ja wohl unstrittig.)

Nun ist es an mir, Deinen Wortgebrauch zu bemäkeln:

Zitat:

dennoch besitzt die regel geltung

" Geltung" ist nichts, das man oder sogar ein Etwas (wie eine Regel) "besitzen" könnte. Geltung ist, wie ich auch schon mal sagte, keine "Eigenschaft" von Sätzen.

Eine Regel gilt also...

Zitat:

- und zwar für alle spieler, die ein gewisses spiel spielen möchten. aber sie besitzt nur insoweit geltung, als die spieler dieses spiel spielen möchten.
die regel als solche ist nicht immanent in den figuren irgendwie angelegt. sie ist -vom standpunkt der figuren gesehen- den figuren gegenüber transzendent.

Das stimmt. Natürlich liegen die Regeln nicht in den Dingen, die man zum Schachspielen braucht. Darum kann man z.B die traditionellen Schachfiguren auch durch ganz anders geformte Dinge ersetzen, wenn diese genau so viele Unterschiede und Ähnlichkeiten aufweisen, wie sie Schachfiguren brauchen. Nur halte ich es für schief, Regeln wie die des Schachspiels in ein Transzendenz-Verhältnis zu den Spielmaterialien zu setzen.

Eine "Dame" im Schachspiel ist nicht identisch mit dem "signum" (also dem "Ding" auf dem Schachbrett), sondern dem "signatum" /Dame/, und das wird durch die Spielregeln überhaupt definiert. d. h. es sind die Spielregeln, die festlegen, was eine Dame im Schachspiel IST. Und genau das kann niemand wissen, der diese Regeln nicht kennt.

Aber es wäre doch sonderbar, wenn aus diesem Grund nur die materielle, ohne weiteres durch ein Äquivalent ersetzbare Figur als "wirklich existierend" gelten dürfte - oder? Dann wäre jeder simpelste Zeichengebrauch ein Ausflug ins über-wirkliche Geisterreich.

Zitat:

natur besaß noch nie ein ziel. nicht mehr und nicht weniger wird konstatiert.

Es ist aber schon ziemlich viel. Mehr als Du wissen kannst.

Gruß
H.

************************

- II
- jacopo_belbo am 09. Nov. 2004, 14:08 Uhr

hallo hermeneuticus,

dass ich als mensch, oder wegen meiner auch als kulturwesen sage, dass die wirklichkeit so ist wie sie ist, ist in diesem falle unerheblich.
dass derjenige, der aus dem 13ten stock eines hauses plumpst anschließend sehr tot sein wird, ist kulturell unabhänig. ob ich nun von der schwerkraft weiß oder nicht, sie wirkt.
wie schon einmal erwähnt, auch hopi-indianer fallen vom pferd *G*
und wer zu lange in der sonne sitzt ohne flüssigkeitsaufnahme dehydriert. und wer nichts ißt verhungert über kurz oder lang.
daran wird auch keine kulturelle interpretation, was nun "essen" und "verhungern" bedeutet etwas ändern.

wenn das kein wissen von der wirklichkeit ist, was dann?

in der tat ist geltung keine eigenschaft von dingen, geschweige denn von sätzen. für diejenigen, die schach spielen wollen, gelten allerdings diese regeln und sind als solche verbindlich. ansonsten spielen sie kein schach. genausowenig, wie diejenigen, die schreien und stampfen schach spielen.

das verhältnis von figuren zu regeln ist transzendent -im metaphorischen sinne- es ist nicht in diesen figuren, wie gespielt wird. genausowenig wie sätze der ethik, aus der wirklichkeit ablesbar sind, oder in handlungen existieren.

analog ist kein ziel in der natur. als solches besitzt die natur kein ziel, genausowenig wie eine schachfigur die "regeln besitzt".

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 09. Nov. 2004, 14:56 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

ob ich nun von der schwerkraft weiß oder nicht, sie wirkt.

Woher weißt Du das?

Zitat:

Ob ich nun von Gott weiß oder nicht, er ist da.

Woher weiß ich das?

Gruß
H.  

- II
- jacopo_belbo am 09. Nov. 2004, 15:15 Uhr

hallo hermeneuticus,

du siehst mich ein wenig ratlos. nicht über deine gestellten fragen als solche. aber, es ist schon ein wenig seltsam, wenn in deinem beitrag auftaucht:

Zitat:

Zitat: Ob ich nun von Gott weiß oder nicht, er ist da.

Woher weiß ich das?  

das weiß ich allerdings auch nicht. und ich weiß auch nicht, wer behauptet hat, dass gott unabhänig von unserem wissen da ist. zumindest bin ich mir sicher, solche thesen nicht, und schon garnicht im thread "wahrheit" von mir gegeben zu haben.
ich bin sehr vorsichtig bezüglich "gott" in verbindung mit "wahrheit". gott ist (bisher) nicht gegenstand unseres erfahrungsbereiches - wahrscheinlich wird das wohl auch so bleiben.

gegenstand unseres erfahrungsbereiches sind allerdings naturgesetze. und ein solches ist das gravitationsgesetz. und, dass es naturgesetze gibt, zeigt sich.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am 09. Nov. 2004, 18:34 Uhr

Hallo Thomas,

Du schreibst: "dass die beobachtung keinen rückSchluss zuläßt, nach welcher regel gehandelt wird."

Ich halte es trotzdem für offensichtlich, dass man aufgrund von Beobachtung entscheiden kann, ob ein bestimmtes Individuum gegen die Norm N1 (die Dienstvorschrift, Flüchtige zu erschießen) oder gegen die Norm N2 (christliche Ablehnung von Gewalt) verstößt.

Wenn der Wachsoldat den Flüchtling erschießt, dann befolgt er nicht die christliche Moral, aber er befolgt die Dienstvorschrift für das KZ-Wachpersonal. Mehr brauche ich nicht in diesem Zusammenhang.

Da kann weder der frühe noch der späte Wittgenstein anderer Meinung sein.

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am 09. Nov. 2004, 19:20 Uhr

hallo eberhardt,

Zitat:

Ich halte es trotzdem für offensichtlich, dass man aufgrund von Beobachtung entscheiden kann, ob ein bestimmtes Individuum gegen die Norm N1 (die Dienstvorschrift, Flüchtige zu erschießen) oder gegen die Norm N2 (christliche Ablehnung von Gewalt) verstößt.

entweder, er erschießt den flüchtigen, oder nicht.
und je nach geltender gesetzeslage, wird er wegen mordes oder wegen missachtung von dienstvorschriften angeklagt. in der tat.

aus der tat allein kann sein handeln, ob entsprechend
oder nicht entsprechend irgendwelcher normen nicht verstanden werden.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am 10. Nov. 2004, 01:48 Uhr

Hallo Eberhard, hallo Thomas!

Mir scheint, unsere Differenzen über den Begriff der Wirklichkeit lassen sich darauf zurückführen, dass Ihr Euch dabei auf Wirklichkeit als GEGENSTAND (von deskriptiven Aussagen und Beobachtungen) beschränkt, während ich unterscheide zwischen Wirklichkeit als Gegenstand und Wirklichkeit als VOLLZUG (Performanz, Handlung).

Ich halte diese Unterscheidung für unverzichtbar, wobei ich auch einsehe, dass Vollzugswirklichkeit sich einer Überprüfung oder einem "empirischen" Nachweis weitgehend entzieht. Vollzüge sind irreflexiv. Sie können gerade deshalb nicht von fixierten Daten erfasst werden, weil sie soeben erst geschehen; Daten sind dagegen immer SPUREN von Geschehenem.

So ist auch ein Satz, fertig ausgesprochen, quasi die Spur des Sprechens. Hat man diesen Satz dann als ganzen vor sich, lässt er sich überblicken, analysieren, es lässt sich daran die Befolgung von oder der Verstoß gegen Regeln zeigen usw. Man kann ihn eben "schwarz auf weiß nach Hause tragen". Während man diesen Satz spricht, hat man dagegen kaum ein Bewusstsein von den Regeln, die man dabei befolgt, man konzentriert sich vielmehr auf das, WAS man sagen WILL. (Das meinte Wittgenstein, als er schrieb: "Ich folge der Regel blind." Er meinte damit natürlich nicht "blinden Gehorsam", sondern die Irreflexivität des Sprechens, also so etwas wie den "blinden Fleck" des Vollzugs.)

Trotz dieser Ungegenständlichkeit des Vollzugs lässt es sich doch schlecht leugnen, dass der fertige, gegenständliche Satz die Handlung des Sprechens VORAUSSETZT; er ist schließlich "nur" ihr Resultat (wobei die Handlung freilich schon auf dieses Resultat zielte). Hat man das Resultat, ist der Vollzug abgeschlossen, als Gegenstand verschwunden. Er "ist" nicht mehr. Der Satz hat dagegen eine bleibende Struktur, eine bleibende Bedeutung.

Diese Überlegung zeigt m.E. klar, dass der Begriff der Wirklichkeit schwammig und fragmentarisch bleibt, wenn er nicht Vollzüge UND ihre Resultate gleichermaßen umfasst und wenn er sich für das asymmetrische, "kausale" Verhältnis zwischen ihnen blind macht.

Nun sind wir uns einig, dass die Prädikate "wahr" und "unwahr" sich auf Sätze beziehen - also auf RESULTATE von (sprachlichen) Vollzügen. Wenn wir aber nach den BEDINGUNGEN oder VORAUSSETZUNGEN von wahren Aussagen fragen, können wir uns nicht auf eine Analyse ihrer Form (Syntax) und Bedeutung (Semantik) beschränken. Wir müssen m.E. anerkennen, dass Sätze Resultate von Handlungen sind, und zwar von Handlungen, die REGELN unterliegen.

Betrachten wir nur fertige Sätze, liegen uns ihre konstitutiven Regeln als "Struktur" vor, als Struktur einer gegenständlichen Wirklichkeit.
Betrachten wir aber die Hervorbringung regelrechter Sätze als Geschehen, so erkennen wir, dass eben jene Regeln für den Sprechenden, der diese Sätze gerade erst noch äußert, VORSCHRIFTEN sind. Für den Handelnden sind also, solange er noch handelt, die späteren Strukturen noch PRÄSKRIPTIONEN. Denn siie schreiben ihm vor, wie er reden SOLL, DAMIT er korrekte bzw. wahre Aussagen zustande bringt. Sein Handeln FOLGT diesen Vorschriften.


Vielleicht wird Euch an dieser Überlegung verständlicher, wieso ich die Unterscheidung zwischen deskriptiven und präskriptiven Sätzen nicht für eine quasi ontologische Kluft halte, sondern bloß für eine polare Spannung innerhalb einer Wirklichkeit, die PRIMÄR aus Handlungen besteht - und das ist ja in unserer MENSCHLICHEN Wirklichkeit unzweifelhaft der Fall.  

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on 11/09/04 um 10:19:08, Eberhard wrote:

Dies sind erfahrbare und beobachtbare Sachverhalte, wie schwierig deren Feststellung im Einzelfall auch immer sein mag.

" Beobachtbare Sachverhalte". Schon dieser Ausdruck deutet an, dass Du, Eberhard, dabei eben an Wirklichkeit als GEGENSTAND denkst. Nicht an die (Vollzugs-)Wirklichkeit desjenigen, der da gerade handelt.

Zitat:

Das Problem, um das es mir geht, ist die Abgrenzung von Sätzen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit von solchen Sätzen, die ein Willensverhältnis zur Welt ausdrücken, die also eine bestimmte Wirklichkeit empfehlen oder vorschreiben, aber nichts beschreiben.

Die Ausdrücke "Beschaffenheit der Wirklichkeit" und "Willensverhältnis zur Welt" deuten auch wieder ganz klar auf die Gegenstandswirklichkeit hin. Schon "Willensverhältnis zur Welt" stellt den Willen in eine - ich sagte quasi-ontologische - Opposition zur irgendwie gegenüberliegenden Welt.

Ich denke aber, wenn es sich um eine MENSCHLICHE Welt handelt, die vom Willen der Menschen GESTALTET ist, die in ihrer "Beschaffenheit" also schon von Regeln und standardisierten Handlungen durchdrungen ist, sollte man sich hier keine Kluft zwischen Wollen/Sollen und Sein vorstellen. Wie ich oben gezeigt habe, sind die Präskriptionen für den Handelnden und die Strukturen der handelnd hervorgebrachten "Welt" nur zwei verschiede Aspekte DERSELBEN Wirklichkeit, die immer - als Vollzug - ein dynamischer Übergang "ist".

Zitat:

Die Geltung von Beschreibungen der Wirklichkeit kann an der Erfahrung überprüft werden. Ich kann mich fragen: Ist es so, wie die Aussage besagt?

Ja, das ist der unbestrittene Vorzug von fertigen Sätzen, von fixierten Handlungs-RESULTATEN.
Allerdings ist Handeln als Vollzug uns auch nicht sooo wahnsinnig fremd, denn wir alle ERLEBEN diese Vollzugswirklichkeit unmittelbar. Ihre Gewissheit zu leugnen, nur weil sie ALS Vollzug nicht so praktisch überschaubar ist wie es Gegenstände der Beobachtung sind, geht aber offensichtlich an der Wirklichkeit vorbei.

Auf die weiteren Abschnitte Deines Beitrags, Eberhard, gehe ich noch ein. Aber für jetzt reicht's erst mal.

Ich hoffe, ich habe mit meinen Überlegungen eine begehbare Brücke zwischen unseren Standpunkten skizziert.

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am 10. Nov. 2004, 16:50 Uhr

Hallo Eberhard!


on 11/09/04 um 10:19:08, Eberhard wrote:

Die Geltung von Beschreibungen der Wirklichkeit kann an der Erfahrung überprüft werden. Ich kann mich fragen: Ist es so, wie die Aussage besagt? Und ich kann mich weiterhin fragen: Stimmen die Wahrnehmungen, die ich mache, mit den Wahrnehmungen überein, die ich zu erwarten habe, wenn die Aussage wahr ist?

Wenn man etwas überprüft und nach Gründen sucht, reflektiert man offenbar. Du sagst: "Ich kann mich fragen..." In dieser Reflexion - die als solche natürlich wieder ein Handeln ist... - werden Handlungen oder Vorgänge zu Gegenständen. Wenn Aussagen Gegenstand der Reflexion werden, sind sie bereits gemacht. Sie liegen fertig vor. Und so, als vorliegende, lassen sie sich dann vergleichen mit dem, wovon sie etwas behaupten - "der Wirklichkeit", die dann ebenfalls als Gegenstand "vorliegt".

Aber halten wir fest, dass sowohl beim Nachdenken wie beim Handeln oder Sprechen, über das da nachgedacht wird, die primäre Wirklichkeit wiederum ein (irreflexives) Handeln ist. Freilich kann man auch handeln und dabei nachdenken. Und man kann auch VOR dem Handeln darüber nachdenken, WAS man tun will und WIE. Das setzt voraus, dass es - in der Reflexion - verschiedene Möglichkeiten gibt, zwischen denen man wählen muss.

Solche Situationen, in denen man nicht einfach nach einem gewohnten Handlungsschema verfährt (also einer Regel "blind" folgt), sind aber klar in der Unterzahl gegenüber unseren Handlungsroutinen. Auch gibt es für Bereiche, in denen man häufig explizite Entscheidungen treffen muss, wiederum Regeln für die Entscheidungsfindung. (Ich denke etwa an einen Broker, dessen Arbeit mehr oder weniger aus Kaufs- und Verkaufsentscheidungen besteht; aber er verfährt dabei wiederum "routiniert", er orientiert sich an Informationen usw.)
Unsere Wege durchs Dickicht des Alltags sind ganz überwiegend schon von Regeln gebahnt, wir brauchen sie nicht immerzu neu mit der Machete der Dezision frei zu hauen. Auch aus diesem Grund sollte man sich hüten, die Situationen, in denen explizite, reflektierte Entscheidungen oder Begründungen von uns erwartet werden, zum Ausgangspunkt der Analyse - oder gar zu ihrem ausschließlichen Bezugspunkt! - zu machen. Es ist m.E. wirklichkeitsnäher, wenn man die Reflexion immer in ihrem Verhältnis zur irreflexiven Praxis begreift, die - wenn sie denn etabliert, instituionalisiert und auch "bewährt" ist - nicht immerzu neuer Begründung bedarf.

Damit will ich mitnichten ein ReflexionsVERBOT aussprechen. Selbstverständlich kann man auch etablierte Praxen kritisieren und neu ordnen, und dazu kann es ja auch gute Gründe geben. Ich betone hier nur deshalb die "bewährte Routine" oder das "blinde" Befolgen von Regeln, weil es in Deinen Reflexionen nicht genug berücksichtigt wird. Ich will diesem Teil der Wirklichkeit zur Geltung verhelfen. Wie sollte ich das tun, ohne ihn immer wieder zu betonen?

Zitat:

Um ein Beispiel zu nehmen: die KZ-Vorschrift in Bezug auf den Schusswaffengebrauch gegenüber flüchtenden Häftlingen mag faktisch gelten, insofern als sie verkündet wurde, tatsächlich befolgt wird und Zuwiderhandlungen bestraft werden. Aber niemand kann allein durch seine Wahrnehmung oder gezielte Beobachtung entscheiden, ob er diese Vorschrift befolgen soll oder beispielsweise seinem christlichen Gewissen folgen soll.

WENN er denn überhaupt eine Entscheidung treffen kann oder muss. Die - nicht gerade hoffnungsvoll stimmende - Erfahrung lehrt ja, dass die meisten Menschen eher Dienstvorschriften folgen als der Stimme ihres Gewissens. Das erspart nicht nur langwierige Diskussionen oder gar manifeste Risiken, sondern entlastet auch in der Folge von persönlicher Verantwortung: man hat eben "auf Weisung" gehandelt, man konnte nicht anders...

Andererseits ist auch die Frage berechtigt, wieviel persönliche Verantwortung man von einem Menschen verlangen darf. Jemand, der aus Gewissensgründen in einen Dauerkonflikt mit Vorgesetzten und Kollegen gerät (wenn nicht in unmittelbare Lebensgefahr), lebt nicht gesund. Er wird zum Außenseiter gestempelt, zum Querulanten, zum Sonderling... und in einer solchen Lebenslage hält niemand lange durch. Außenseiter brauchen Zähigkeit und Ausdauer. Sie müssen sich in ihrer Entscheidung zum Widerspruch immer auch fragen, ob und wie lange sie damit durchhalten (eine Frage, die jeder seriöse Anwalt seinen Klienten stellt, ehe er tätig wird).

Das Problem, die Grenze der Kritik (oder der Reflexion) liegt offenbar darin, dass - unterdessen oder nebenbei - "das Leben" weitergehen muss...

Zitat:

Insofern erfordert die Rechtfertigung bzw. Kritik präskriptiver Sätze andere Arten von Argumenten als die Rechtfertigung und Kritik deskriptiver Sätze.

Das will ich nicht grundsätzlich bestreiten. Aber diesen Unterschied sollte man nicht überdramatisieren. Denn, wie angedeutet, wird die Möglichkeit des Fragens danach, wie etwas sein SOLL, immer begrenzt von der faktischen Lage, die dann (und NUR dann!) als ZWANGSLAGE bewusst wird.

Ich glaube, es war Bärbel Bohley, die einmal sagte: "Wir DDR-Bürger suchten Gerechtigkeit und bekamen - den Rechtsstaat..." Womit angedeutet war, dass dieser Rechtsstaat mit seinen faktischen Routinen nicht sehr viel mit der erwarteten Gerechtigkeit (einer Idee) zu habe. Er war offenbar nur sowas wie "zweite Wahl", "kleineres Übel". Und hätte man gewusst, worauf man sich da wirklich einlässt...

Ich will damit nur andeuten: Wenn man die Andersartigkeit der Gründe für das Sollen zu sehr betont, könnte man sich die übermächtige Praxis, die nicht so will, wie sie eigentlich sollte, zum dauerhaften Feind machen.

Reflexion und Kritik muss man sich leisten können. Oder einen Brotberuf daraus machen. Aber dann wird man womöglich zum "routinierten Kritiker" mit den dazu gehörenden Betriebsblindheiten...

Zitat:

Bei dem Wort "gut" ist das anders: ein guter Drucker, ein guter Film oder ein guter Mensch lassen sich als solche nicht beobachten, sie beziehen sich auf einen bestimmten Standard der Bewertung - und diese Standards können von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe, von Subkultur zu Subkultur verschieden sein.

Die "Güte" einer Handlung oder eine Produkts lässt sich durchaus beobachten, wenn es eben jeweils einen etablierten Standard der Bewertung (und das heißt: eine etablierte Praxis) gibt. Dass diese Standards nicht universell gelten, sondern nur für die, die jeweils bestimmte Zwecke verfolgen, halte ich für kein Problem.

Es ist nicht auszuschließen (und fallweise auch legitim), bewährte Praxen mit ihren Standards INSGESAMT einer Bewertung zu unterziehen. Dafür benötigt man dann offenbar Urteilskriterien, die man nicht eben dieser Praxis entnehmen kann. Aber dann begibt man sich auf ein anderes Reflexionsniveau (und sollte das dabei bedenken!).

So lässt sich die Dienstvorschrift eines KZ durchaus legitim als ganze be- und verurteilen. Aber mir scheint, dass man dabei nicht notwendigerweise ins über-wirkliche Spekulieren geraten und sich an bloß intelligiblen Ideen orientieren muss. Mein Beispiel mit dem christlichen Gewissen deutet das an. Das Christentum ist eben eine von den jeweiligen politischen Rechtsordnungen unabhängige Institution mit einem eigenen, historischen Wertekanon und einer dazu gehörenden Praxis. (Mir scheint, es lässt sich auch zeigen, dass der christliche Glaube eine wesentliche - und ganz diesseitige - Vorreiterrolle für die Formulierung Menschenrechte gespielt hat, obwohl kurioserweise die kathol. Kirche die Menschenrechtscharta bis heute nicht unterzeichnet hat.)

Fazit: Ich lehne einen Platonismus des Sollens und der Präskriptionen, die angeblich von jenseits der Wirklichkeit stammen, rundum ab. Selbst wenn man eine universelle Idee oder Form des Guten in Anspruch nimmt, hat diese immer noch eine Wirklichkeit, nämlich in der Reflexion (also in einer Handlung) von Menschen aus Fleisch und Blut.

So weit erst mal.

Gruß
H.

- II
- Eberhard am 10. Nov. 2004, 20:06 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

ich muss gestehen, dass ich Deinen vorletzten Beitrag nicht verstanden habe, insbesondere was mit "Wirklichkeit als Vollzug" im Zusammenhang der Klärung des Wahrheitsbegriffs gemeint ist. Was ich tue, was ich vollziehe, ist doch auch für mich erfahrbar. Ich kann doch nicht nur das Geschehene sondern auch das gerade Geschehende wahrnehmen und reflektieren. Was hat Vollzug mit Erkenntnis zu tun?

Ich gehe davon aus, dass es bei unseren philosophischen Diskussionen um Fragen und deren richtige Beantwortung geht. Dies ist auch eine Form des Handelns, bei dem allerdings die angestrebten Resultate allein aus Sätzen bestehen.

Es geht hier (vorerst) um die richtige Beantwortung von Fragen wie: "Wie viele Kilometer ist der Mond von der Erde entfernt?", "Was verdient ein Facharbeiter in der Elektroindustrie durchschnittlich im Monat?"   "Wurde J.F. Kennedy Opfer einer Verschwörung?" "Wie nimmt der Mensch Schmerz wahr?" "Ist Granit schwerer als Platin?" "Wie lange wird unsere Sonne noch scheinen? "Gibt es Meerjungfrauen oder Schutzengel?" "Was geht in meinem Gehirn vor, wenn ich mich erinnere?" "Enthalten Träume Hinweise auf die Zukunft?"

All das sind positive Fragen nach der Wirklichkeit, Fragen danach, wie die Welt beschaffen ist, früher war und zukünftig sein wird. Wir streiten um den besten Weg zu richtigen Antworten, um das Kriterium ihrer Wahrheit, und um die Allgemeinheit ihrer Geltung.

Wo dabei der Platz für "Wirklichkeit als Vollzug" ist, ist mir nicht klar geworden.

Ich mache eine analytische Unterscheidung zwischen Sätzen, die Informationen darüber enthalten, wie die Welt beschaffen ist, und Sätzen, die dies nicht tun.

Der Grund dafür ist einfach: Begründung und Widerlegung derartiger positiver Aussagen erfordert andere Argumente als die Begründung und Widerlegung anderer Sätze, wie z. B. des normativen Satzes: "Man soll niemanden wegen einer Tat bestrafen, wenn man nicht zuvor gehört, was er selber zu seiner Entschuldigung zu sagen hat."

Aber ich sehe hier keine Kluft und auch kein Auseinanderreißen von Zusammengehörigem.
Im Gegenteil: normative und positive Fragen sind eng miteinander verzahnt. Um nur einige Punkte zu nennen:
 - jede positive Frage setzt z. B. die Entscheidung voraus, gerade diese Frage zu behandeln und sie für wichtig zu halten;
 - die wissenschaftliche Methodik ist selber normativ, denn sie enthält Anleitungen zur richtigen Beantwortung gestellter Fragen;
 - auch die im engeren Sinne normativen Fragen setzen zu ihrer Beantwortung zahlreiche faktische Kenntnisse voraus, z. B. wenn man die Konsequenzen von Handlungen berücksichtigen will.

Ich muss gestehen, deine Ausführungen sind für mich neuartig. Ich bin gespannt, ob sich für mich daraus neue Gesichtspunkte ergeben.

Es grüßt dich Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am Vorgestern, 00:04 Uhr

Hallo Eberhard!

Du schreibst:

Zitat:

All das sind positive Fragen nach der Wirklichkeit, Fragen danach, wie die Welt beschaffen ist, früher war und zukünftig sein wird. Wir streiten um den besten Weg zu richtigen Antworten, um das Kriterium ihrer Wahrheit, und um die Allgemeinheit ihrer Geltung.

Unsere Diskussion kreist schon eine ganze Weile vor allem um die Bedeutung der Ausdrücke "Wirklichkeit" bzw. "Beschaffenheit der Welt" oder "Welt". Offenbar sind diese Ausdrücke unter uns noch nicht hinreichend geklärt.
Das zeigt jedenfalls die Diskussion zwischen Thomas und mir: wir kommen da offenbar auf keinen gemeinsamen Nenner.

Und blicke ich auf Deine Beiträge zurück, sehe ich zwar, dass Du die genannten Begriffe sehr häufig verwendest, aber eingehender erläutert hast Du sie noch nicht. Du kannst ja mal eine Definition vorschlagen (und sie ein wenig begründen). Allerdings würde es nicht weiterhelfen, wenn Du den Wahrheitsbegriff schon in Deiner Definition verwendest (etwa: "Wirklichkeit ist das, worüber sich wahre Aussagen machen lassen." ). Das wäre eine Zirkeldefinition, weil umgekehrt Wahrheit - ich denke, so weit unstrittig zwischen uns - definiert ist als "zutreffende Aussagen über die Wirklichkeit".

Gruß
H.

- II
- jacopo_belbo am Vorgestern, 01:55 Uhr

hallo,

wie wäre es denn mit der folgenden definition:

wirklichkeit ist die summe aller objekte die in existenzaussagen vorkommen können, die mit einem korrekten namen benannt werden.

beispiel:
(I) "meine mutter" es gibt genau eine person, die meine mutter ist.

(II) "das grüne" ist kein korrekter name, weil es a) eine eigenschaft ist und b) kein gegenstand existiert, der mit "das grüne" benannt wird.

- mfg thomas

- II
- Eberhard am Vorgestern, 08:47 Uhr

Hallo Hermeneuticus und Thomas, hallo allerseits,

Was ist wirklich? Was meinen wir, wenn wir von etwas sagen, es sei "wirklich" ?

Meine Definition von "wirklich" deckt sich weitgehend mit der von Thomas gegebenen Definition:

Etwas ist wirklich, wenn es existiert, existiert hat oder existieren wird.

Anders ausgedrückt: wirklich ist alles was ist, was war und was sein wird.

Wirklich ist alles, was es gibt, was es gab, und was es geben wird.

Es grüßt euch Eberhard.

- II
- Hermeneuticus am Vorgestern, 13:13 Uhr

Ah, ja...

Schöne Grüße
H.

- II
- Eberhard am Vorgestern, 22:41 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

zum einen: ich bin mit Dir einer Meinung, dass die richtige Beantwortung von Fragen in Bezug auf das, was ist, eine sehr spezielle Tätigkeit ist, die die verschiedensten faktischen Bedingungen erfordert, um stattfinden zu können.

Aber das ist doch in unserem Zusammenhang nur dann von Bedeutung, wenn dies Konsequenzen hinsichtlich unserer Problemstellung hätte, wenn sich  also deswegen die Fragen, die Methoden ihrer Beantwortung oder das Kriterium ihrer Geltung ändern würden. Solange das nicht gezeigt wird, sehe ich keinen Grund, diese Bedingungen näher zu analysieren.

Zum andern: Dein Fazit ist: "Ich lehne einen Platonismus des Sollens und der Präskriptionen, die angeblich von jenseits der Wirklichkeit stammen, rundum ab. Selbst wenn man eine universelle Idee oder Form des Guten in Anspruch nimmt, hat diese immer noch eine Wirklichkeit, nämlich in der Reflexion (also in einer Handlung) von Menschen aus Fleisch und Blut."

Mich kannst Du damit wohl nicht gemeint haben, denn bei mir sind Normen Ausdruck menschlichen Wollens und stammen nicht "von jenseits der Wirklichkeit".

Es grüßt Dich Eberhard.

- II
- jacopo_belbo am Gestern, 07:18 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich fühle mich mit dem vorwurf des platonismus ebenfalls nicht angesprochen. ich berufe mich darauf, dass es sich ethik auf sätze stützt, die der wirklichkeit nicht inhärent sind. ich denke, dass spätestens mit meiner definition, der vorwurf des platonismus ausgeräumt sein sollte. für platon waren seine ideen ontologisch konstitutiv. das sehe ich anders. wenn wir von "gerechtigkeit" sprechen, so substantivieren wir das adjektiv "gerecht". es beschreibt nicht mehr eine eigenschaft von handelnden menschen, sondern etwas abstraktes (artifizielles). eine solche entität lehne ich strikt ab.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am Heute, 01:06 Uhr

Hallo Eberhard, hallo Thomas!

Am Begriff des Platonismus liegt mir im Zweifelsfall nichts; davon hängt auch meine Position nicht ab. Was ich damit meine, ist in etwa:

1.      die ontologische Auszeichnung des dauernden (bei Platon: ewigen) Seins vor dem flüchtigen, daher nur scheinbaren Sein der Erfahrung und des täglichen Lebens

2.      die Korrelation dieses dauernden Seins mit den logisch/mathematischen Formen des Wissens (" Vernunft", Wissenschaft)

3.      daraus folgend: die Abwertung des Partikularen, Individuellen, Veränderlichen, Endlichen, Vorläufigen, Pragmatischen

Ob Platon selbst ein eingefleischter "Platonist" war, sei dahingestellt (darüber streiten sich die Schulen). Und inwieweit die genannten Merkmale auf Eure hier vertretenen Positionen zutreffen, mögt Ihr selbst beurteilen.

Meine Argumentation in diesem Thread jedenfalls richtete sich durchgängig gegen die einseitige Abwertung des lebensweltlichen Wissens und der lebensweltlichen Seinsvollzüge, gegen eine einseitige Orientierung an universellen "Geltungsansprüchen" (seien es epistemische oder moralische). Außerdem liegt mir daran, dass "Wirklichkeit" nicht mit Gegenständlichkeit gleichgesetzt wird (" 'Wirklichkeit' ist das Gewusste, das in überprüfbaren Aussagen Beschreibbare." ), denn darin liegt eine Auszeichnung der Reflexion vor dem Vollzug, der Theorie vor der Praxis.

Was ich mit dem Unterschied zwischen gegenständlicher Wirklichkeit und Vollzugswirklichkeit meine (den Eberhard so neu und befremdlich findet, dass es mich meinerseits befremdet), lässt sich anhand des berühmten Descartes'schen "cogito ergo sum" ganz gut erläutern. "Ich denke, also bin ich." Dieses "also" meint erkennbar keine logische, analytische Ableitung. "Sein" wird hier nicht verstanden als etwas, das in der Bedeutung von "Denken" enthalten ist (so wie "Vierbeiner" in "Pferd" ). Man könnte vielleicht meinen, das Denken, dieser letzte, vom möglichen Zweifel nicht aufzulösende Rest, entdecke in diesem Satz so etwas wie seine "Voraussetzung". Aber dieses Sein ist nicht irgendwie in ein Verhältnis zum Denken "gesetzt". Und schon gar nicht als ein so und so Beschaffenes. Man könnte auch meinen, Sein "liege" hier dem Denken "zugrunde". Aber dazu müsste es vom Denken verschieden sein, und davon ist nicht die Rede.
Gemeint ist offenbar, dass "Denken" als schiere, nicht näher bestimmte geistige TÄTIGKEIT mit "Sein" (Dasein) identisch ist. Nur eben nicht logisch identisch, sondern als Vollzug. Mein Denken ist Vollzug meines Seins, ganz gleichgültig, WAS ich dabei denke – Wahres oder Unwahres, Geträumtes oder Erfahrenes, Wirkliches oder Unwirkliches, Sinnvolles oder Unsinn. Die Vollzugseinheit von Denken und Sein bleibt in jeder möglichen gegenständlichen Bestimmung des Denkens erhalten. Aber es ist auch klar, dass sie den jeweiligen Denkinhalten gewissermaßen "im Rücken" liegt; sie wird als solche nicht gedacht – und widersetzt sich auch einer gedanklichen Erfassung.

Descartes wollte mit seiner Meditation aufzeigen, dass kein noch so radikaler Zweifel diese denkend-existierende Selbstgewissheit auflösen kann. Jede nähere gegenständliche Bestimmung des Denkens kann dem Irrtum unterliegen, kann z. B. nur geträumt sein. Aber auch vom radikalsten Zweifel wird diese Vollzugseinheit von Denken und Sein in Anspruch genommen.

Damit ist nicht gesagt, dass es solche Selbstgewissheit NUR im Denken geben kann. Sondern nur, dass die zweifelnde Reflexion hier an ihre Grenze stößt. Und erfahrungsgemäß begleitet uns die Selbstgewissheit des Daseins ja in vielerlei Vollzügen – auch sprach- und gedankenlosen. Wir haben auch nicht immerzu Anlass zu zweifeln, nach einem Warum zu fragen oder nach Gründen zu suchen. Gründe brauchen wir eigentlich nur gegen auftauchende Zweifel oder Widersprüche – eigene oder fremde. Eine gelingende, zufriedenstellende Handlung bedarf keiner zusätzlichen Begründung.

Vielleicht wird Euch an diesen Überlegungen auch verständlich, wieso ich nicht damit einverstanden bin, dass nur eine wissenschaftlich begründete (oder gar begründbare!) Aussage Wirklichkeit erfassen können soll. Gelingende Lebensvollzüge sind darauf nicht angewiesen, sie sind eine unmittelbare Lebenswirklichkeit, die auf jegliche Wissenschaft und gelehrte Reflexion pfeifen kann. Und das gilt selbstverständlich auch für gemeinschaftliche Praxen. Wenn ich mit anderen zusammen etwas erlebe oder tue, das wir jeweils als befriedigend oder beglückend erfahren, stellt sich nicht die Frage, ob das auch "gut und richtig" so war, ob sich das vor dem Richterstuhl einer moralischen Weltvernunft verteidigen ließe.

Um es allgemeiner zu sagen: Ich bin dagegen, das Zweifeln und das Begründen VOR die Praxis zu setzen  - oder gar vor JEDE Praxis. Ich halte dafür, dass Reflexion, Zweifel und Begründen der (gelingenden) Praxis NACHGEORDNET sind. Und darum sollten sie auch in einer (philosophischen) Reflexion METHODISCH als nachgeordnet BEHANDELT werden.

Eine solche Veränderung der Perspektive ändert sehr wohl etwas am Verständnis von Wahrheit und ihren Geltungsbedingungen. Denn Praxen sind, auch als standardisierte, stets partikular. Man kann vielleicht einen streng allgemeinen, notwendigen Gedanken fassen, den jeder Mensch in derselben Form fassen müsste. Handeln kann man dagegen immer nur als Individuum an Ort und Stelle.
Aber mag eine gelingende Praxis noch so partikular oder flüchtig sein: Sie muss sich nicht in jedem Fall oder "immer schon" gegenüber einem universalistischen Reflexionsstandpunkt rechtfertigen. Sie hat ihre Berechtigung in sich.
Und darum ist nicht nur das "wahr", "wirklich" oder "gut", was durch aufwendige Praktiken der Begründung gegen JEDEN MÖGLICHEN Zweifel abgesichert ist. Kommen Zweifel auf, genügt es, sich vor den JEWEILS  ZWEIFELNDEN zu verantworten.

Schöne Grüße
H.

- II
- jacopo_belbo am Heute, 02:41 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich möchte mich nocheinmal kurz zu wort melden.
in unserem disput ging es vorallem um das, was im thema angedeutet war. es ging um wahrheit und ihre bedingungen. in dieser frage halte ich es für sinnvoll, nicht das eigentliche ziel vor augen zu verlieren.
wenn wir uns über die definition der wirklichkeit unterhalten, so denke ich, ist es ratsam sich darauf zu einigen, inwieweit man sich ontologisch festlegen will. ich denke w.v.o. quine (quine:" on what there is" 1948), den ich ein wenig frei bei meiner persönlichen definition zitiert habe(" To be is to be the value of a variable" ), gibt uns gute möglichkeiten eine gemeinsame basis für das, was wir wirklichkeit nennen zu finden.
ich würde nicht soweit gehen zu sagen, dass hier "wirklichkeit" mit "gegenständlichkeit" -was auch immer das sein mag- gleichgesetzt wird. es geht lediglich um die beantwortung der frage: "was ist da?"
und die antwort schließt nicht nur gegenstände, sondern ebenso, menschen, tiere etc. mit ein.
die prinzipielle offenheit, die quines sichtweise, anbietet, gibt uns die möglichkeit verschiedene -sozusagen- ontologien auszuprobieren.

es wird auch nicht das, was du "lebensweltliches wissen" nennst abgewertet. sofern es brauchbares wissen ist, wird es unangetastet bleiben - vielleicht ausgeklammert. sofern es unzureichend ist, um etwas über die beschaffenheit der wirklichkeit zu sagen, wird es sinnvoll ergänzt durch das wissen, welches wir aus den naturwissenschaften gewinnen - das nach meiner überzeugung auf vielen gebieten zuverlässig -wenn auch fallibel- ist.

ohne descartes gewalt antun zu wollen, bin ich der meinung, dass sein zweifel-spiel auf falschen voraussetzungen beruht. dennoch ist am descart'schen "je pense, donc je suis" trivialer weise etwas wahres. um zu denken, muss man notwendigerweise sein, und kann nicht nichtsein, weil nicht-seiendes auch nicht denken kann. da nichtseiendes keine eigenschaften hat, kann es auch nicht die eigenschaft zu denken haben.

was das verhältnis von leben und wissen anbelangt, möchte ich mit einem goethe-zitat schließen:

Zitat:

Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tag leben.


wobei man auch etwas allgemeiner formulieren könnte: "wer sich nicht weiß rechenschaft zu geben" - auch wenn's den reim zerstört.

- mfg thomas

- II
- Hermeneuticus am Heute, 12:17 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

es ging um wahrheit und ihre bedingungen. in dieser frage halte ich es für sinnvoll, nicht das eigentliche ziel vor augen zu verlieren.

Das finde ich auch. Und ich habe mein Ziel auch nie aus den Augen verloren. Und das war seit meinem ersten Beitrag in dieser Diskussionsrunde: die Abbildtheorie der Wahrheit kritisieren.

Zitat:

ich denke w.v.o. quine (quine:" on what there is" 1948), den ich ein wenig frei bei meiner persönlichen definition zitiert habe(" To be is to be the value of a variable" ), gibt uns gute möglichkeiten eine gemeinsame basis für das, was wir wirklichkeit nennen zu finden.

Das denke ich nicht. Damit würden wir uns von vornherein auf eine logische, formale, "analytische" Untersuchung festlegen. Und bekanntlich befasst sich die Logik mit den "Werten von Variabeln" bestenfalls als Beispielen. Ihr Interesse gilt ausschließlich dem, was für alle x oder einige x ausgesagt werden kann (und was daraus jeweils FOLGT). "Werte von Variabeln" sind immer "Fälle von...", und ich wehre mich ganz entschieden dagegen, "to be" darauf zu reduzieren.

Zitat:

ich würde nicht soweit gehen zu sagen, dass hier "wirklichkeit" mit "gegenständlichkeit" -was auch immer das sein mag- gleichgesetzt wird. es geht lediglich um die beantwortung der frage: "was ist da?"

Da Du in Deinem Definitionsvorschlag den Begriff des "Objekts" verwendest, scheinst Du diesen auch zu verstehen. "Gegenstand" ist der entsprechende - und ziemlich geläufige - deutsche Ausdruck dafür. "Gegenständlich" ist alles, das "Objekt" sein kann: von Aussagen, Beobachtungen, Handlungen...
Und wenn man eine Aussage über x macht, sagt man, dass dieses x ein "Fall von" diesem oder jenem sei. Die Handlung aber, mit der man eben dies tut, ist nicht Gegenstand dieser Aussage. Aber als Handlung - als solche gerade aber nicht thematisch bzw. nicht Gegenstand der Untersuchung - ist das Aussagen ja wohl trotzdem "wirklich".

Und nun stellt sich die Frage: Ist die Handlung wirklich deshalb, weil man darüber Aussagen machen kann? Oder ist sie auch wirklich, ohne dass sie zum Gegenstand einer Aussage wird?
Im ersten Fall bekäme sie das Prädikat "wirklich" allein durch die Aussagen verliehen, die über sie möglich sind. Und ich denke, dass eine solche Auffassung an unserer Lebenswirklichkeit ziemlich weit vorbei zielt.

Zitat:

und die antwort schließt nicht nur gegenstände, sondern ebenso, menschen, tiere etc. mit ein.

Aber das so "Eingeschlossene" wäre dann immer bereits ALS  Gegenstand (als "Fall von x" ) eingeschlossen. Es macht eben LOGISCH keinen Unterschied, ob x ein Mensch oder ein Tier ist.

Zitat:

ohne descartes gewalt antun zu wollen, bin ich der meinung, dass sein zweifel-spiel auf falschen voraussetzungen beruht.

Das mag sein. Ich habe Descartes auch nicht erwähnt, um mich als Cartesianer zu outen. Ich habe ihn nur als einen "Fall von" aufgegriffen, nämlich als Beispiel, an dem sich gut demonstrieren lässt, was ich mit "Wirklichkeit des Vollzugs" meine. Und das wiederum war ein Service für Eberhard, der nicht verstand, was ich meinte.

Zitat:

um zu denken, muss man notwendigerweise sein, und kann nicht nichtsein, weil nicht-seiendes auch nicht denken kann. da nichtseiendes keine eigenschaften hat, kann es auch nicht die eigenschaft zu denken haben.

Damit zielst Du aber am Gemeinten vorbei. "... also bin ich" wird nicht als eine "notwendige Voraussetzung" oder als möglicher Träger von "Eigenschaften" thematisiert. Das kommt bei Descartes erst später, wenn er das Denkende als "Substanz" einordnet und es als "res cogitans" der "res extensa" gegenüberstellt. Dann ist das "cogito" eben eine "res", ein Ding, ein "Etwas". Oder anders gesagt: Dann ist es GEGENSTAND unter Gegenständen.
Aber diese Einordnungen, die Klassifikation von "Substanzen" usw. nehmen das cogito ALS VOLLZUG immer schon in Anspruch. (Kant, der übrigens das Denken ganz explizit als ein HANDELN ansprach, formulierte: "Das 'ich denke', das alle meine Vorstellungen muss begleiten können." )

Zitat:

was das verhältnis von leben und wissen anbelangt, möchte ich mit einem goethe-zitat schließen...

Goethe hat (neben so mancherlei andern Vorzügen) den Vorzug, dass man bei ihm fast immer ein Zitat findet, das die eigene Ansicht bekräftigt. So auch dieses:

Zitat:

Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.

Gruß
H.

- II
- Hermeneuticus am Heute, 12:50 Uhr


Zitat:

Wenn ich mit anderen zusammen etwas erlebe oder tue, das wir jeweils als befriedigend oder beglückend erfahren, stellt sich nicht die Frage, ob das auch "gut und richtig" so war, ob sich das vor dem Richterstuhl einer moralischen Weltvernunft verteidigen ließe.

In Woody Allens Film "Manhattan" sagt während einer Stehparty eine Frau (ich glaube, sie wird von Meryl Streep gespielt) im lockeren Gespräch ganz ernsthaft: "Ich hatte dieser Tage einen Orgasmus. Aber mein Analytiker meint, es sei nicht der richtigte gewesen..."

Gruß
H.


PS. Nee, war doch wohl Diane Keaton.

- II
- Eberhard am Heute, 21:46 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Dir ist wichtig, zwischen "Vollzugswirklichkeit" und "gegenständlicher Wirklichkeit" zu unterscheiden. Ich gebe zu, dass ich weiterhin Probleme habe, den Sinn dieser Unterscheidung einzusehen.

Du schreibst, "dass 'Denken' als schiere, nicht näher bestimmte geistige TÄTIGKEIT mit 'Sein' (Dasein) identisch ist. Nur eben nicht logisch identisch, sondern als Vollzug. ... Die Vollzugseinheit von Denken und Sein bleibt in jeder möglichen gegenständlichen Bestimmung des Denkens erhalten. Aber es ist auch klar, dass sie den jeweiligen Denkinhalten gewissermaßen "im Rücken" liegt; sie wird als solche nicht gedacht – und widersetzt sich auch einer gedanklichen Erfassung."

Was ist aber eine "Vollzugseinheit" bzw. eine "Identität als Vollzug" in Bezug auf Denken und Sein? Vollkommen mysteriös wird es für mich, wenn Du schreibst, dass die Vollzugseinheit von Denken und Sein sich einer gedanklichen Erfassung "widersetzt".

Ich kann das Verhältnis von Denken und Sein in dem Satz ausdrücken: "Wer denkt, der muss logischer Weise auch existieren." Dabei kommt es nicht auf die gedachten Inhalte an, sondern nur auf das Faktum des Denkens.

Was darüber hinaus noch eine "Identität als Vollzug" bedeutet, kann ich nicht erkennen. Was ist, gehört zur Wirklichkeit, sei es auch noch flüchtig, veränderlich, unfertig, partikular, individuell, banal etc.

Du schreibst: " … erfahrungsgemäß begleitet uns die Selbstgewissheit des Daseins ja in vielerlei Vollzügen …" Richtig ist, dass bei vielem, was ich tue, keinerlei Nachdenken oder Zweifel aufkommen – und auch völlig überflüssig, wenn nicht sogar hinderlich wären. Aber um das festzustellen, benötige ich nicht den Begriff der "Vollzugswirklichkeit".

Dir ist wichtig, dass die Praxis dem Begründen vorangeht. Ich kann dem insofern zustimmen, als etwas nicht deswegen wirklich ist, weil wir es zum Gegenstand von wahren Aussagen machen. Den Kometen Hale-Bopp, der vor wenigen Jahren am Firmament auftauchte, hat es schon gegeben, bevor Menschen ihn entdeckten.

Allerdings: um ihn für wirklich zu halten und diese Überzeugung in einer entsprechenden Existenzbehauptung auszudrücken (" Es gibt einen Kometen mit der Flugbahn x,y,z. Er trägt den Namen 'Hale-Bopp'" ), muss es dafür Begründungen geben.

Die Ebenen des "wirklich seins" (das unabhängig von unserem Denken der Fall sein kann) und die Ebene des "als wirklich halten bzw. behaupten" (das eine Begründung verlangt) müssen deshalb sorgfältig auseinander gehalten werden.

Damit hat sich wohl auch Deine Frage zur Handlung des Aussagens erledigt, wo Du fragst: "Ist die Handlung wirklich deshalb, weil man darüber Aussagen machen kann? Oder ist sie auch wirklich, ohne dass sie zum Gegenstand einer Aussage wird?

Unter der mangelnden Unterscheidung der beiden Ebenen des "wirklich seins" und des "für wirklich halten" leidet auch Deine Feststellung: "Und darum ist nicht nur das … 'wirklich'  … , was durch aufwendige Praktiken der Begründung gegen JEDEN MÖGLICHEN Zweifel abgesichert ist."

Der Komet Hale-Bopp war bereits wirklich, bevor Menschen ihn entdeckten und begründen konnten, dass es einen derartigen Himmelskörper gibt. Aber es ist nicht zulässig, etwas als "wirklich" zu behaupten, ohne dass man über Gründe für die behauptete Existenz des Kometen verfügt.

Es grüßt Dich ein um Verständnis bemühter Eberhard.

 

 

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "PhilTalk-Diskussion Wahrheit II" / Letzte Bearbeitung 25.05.2006 / Eberhard Wesche

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